Sturm: Roman (German Edition)
entschieden den Kopf. »Nein, keinesfalls. Aber während die betroffene Bevölkerung – gelenkt von der Kirche – glaubte, der Sturm sei eine Strafe Gottes, hielten die Mächtigen ihn für einen Fingerzeig, mit dem Gott sie darauf hinweisen wollte, wie sie ihre Feinde in Zukunft ohne eigene Verluste würden auslöschen können.« Jan lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Du musst das vor dem Hintergrund der damaligen Zeit sehen. Die Wirtschaft des Landes war zusammengebrochen, Seuchen und Krankheiten grassierten, die Menschen litten Hunger. In dieser schrecklichen Zeit begannen sie, neue Antworten auf uralte Fragen zu suchen.«
»Zum Beispiel auf die Frage, wie man seine Feinde vernichten kann.« Kinah erhob sich, trat vor das schwarz gebeizte Bücherregal und griff wahllos einen Band heraus.
Das Buch war in schweres, stockfleckiges Leder gebunden. Sie schlug es auf und blätterte darin.
Ihr Blick fiel nicht auf gedruckte Lettern, sondern auf Texte und Tabellen in einer sauberen Handschrift, die sich mit Zeichnungen von Wetterkatastrophen aller Art abwechselten: von Hagel, der auf Felder eindrosch, von Blitzen, die ein reetgedecktes Haus in Brand setzten, von einem über die Ufer tretenden Fluss, der einen Damm wegschwemmte – und von einem Wirbelsturm, der in eine Waldlichtung fuhr und eine nur mit wenigen Strichen skizzierte Menschengruppe auseinanderriss.
Kinah drehte sich abrupt zu Jan um. »War das die Grundlage für das, was du mir gezeigt hast?«
Jan zuckte mit den Schultern. »Unter anderem. Ich habe das Glück, dass meine Vorfahren sämtliche Aufzeichnungen über Wetterkatastrophen und Klimaabnormitäten zusammengetragen haben, die sie finden konnten. Und die Szene im Wald wird in einigen Aufzeichnungen erwähnt. Auf ihr fußt sogar eine regionale Sage: Giethorn, der Windjunge. Die Erzählung geht allerdings glücklich aus.«
»Giethorn und seine Mutter kommen in den Himmel«, vermutete Kinah.
»So ähnlich.« Jan winkte ab, bevor Kinah eine weitere Bemerkung zu der holografischen Darstellung machen konnte. »Da hast du dir ein besonders wertvolles Exemplar aus der Sammlung meiner Vorfahren herausgepickt. Die Aufzeichnungen eines Kirchenmannes Gernot von Tugott. Im Grunde war er nichts weiter als der Schreiber des Alchemisten Alberto Castanada, eines Mannes der ersten Stunde, wenn es um die Wissenschaft geht.«
Kinah blickte überrascht auf. »Die Kirche und die Alchemisten haben gemeinsame Sache gemacht?«
Jan nickte. »Immer schon. Wobei es natürlich auch zu erbitterten Anfeindungen der Kirche gegen die Alchemie kam. Aber das tut nichts zur Sache. In diesem Buch sind sehr sauber Wetterphänomene aller Art aufgelistet worden, und man hat versucht, Wettervorhersagen zu treffen, die weit über die einfachen Bauernregeln hinausgingen. Wenn du so willst, waren Gernot von Tugott und Alberto Castanada die ersten Meteorologen.«
Kinah blätterte vorsichtig Seite für Seite um, bemüht, dem brüchigen Papier keine Beschädigung zuzufügen. Tugott hatte zwischen altertümlichem Deutsch und Latein gewechselt, ein weiteres Anzeichen dafür, dass dieses Werk in einer Zeit des Umbruchs entstanden war. Für Kinah machte das allerdings keinen Unterschied, für sie war beides gleichermaßen unverständlich, und sie war schon stolz darauf, die zwei Sprachen überhaupt identifiziert zu haben.
»Von Wetterbeobachtungen zu Wetterwaffen ist es aber ein weiter Weg«, stellte sie fest.
»Ein sehr weiter Weg«, stimmte Jan zu. »Das erkannten damals auch die optimistischen Gemüter schnell. Allerdings hinderte sie das nicht daran, zu versuchen, das Wetter für ihre finsteren Absichten zu nutzen. Es ist ja auch verführerisch: ein Hagelsturm, der über eine feindliche Stadt fegt, ihre Befestigungsanlagen zerstört und ihre Vorräte unbrauchbar macht … Oder Blitze, die in ein anrückendes Heer schlagen und es in alle Winde zerstreuen.«
Kinah sah auf. Eine scharfe Falte stand plötzlich auf Jans Stirn. »Seitdem gibt es verschiedene Gruppierungen, die an Wetterwaffen arbeiten. Oder versuchen, anderen, die vermeintlich weiter sind als sie, die Konstruktionspläne abzujagen.« Seine Augen funkelten hart. »Die modernen Militärs treibt nichts anderes an als die Feldherren zu Wallensteins Zeiten: Sie wollen siegen. Und das bisschen Rücksicht, das sie dabei gegen Feind und Freund walten lassen, ist für sie lediglich eine Frage der Anpassung an herrschende Vorstellungen. Gestattet man es ihnen, dann jagen sie
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