Sturm: Roman (German Edition)
Lebensweg mitgegeben hatte. Kein Amulett, keinen kleinen Talisman, kein sichtbares Symbol für die schützende Hand, die er stets über sie hielt. Nur diesen Brief, den sie als kleines Kind von ihm erhalten hatte. Zuvor hatte er sie gesegnet, und kurz darauf schickte er sie auf eine weite Reise, weil grausame Männer auf dem Weg zum Dorf waren, Rebellen oder Soldaten, die keine Gnade kannten und auch nicht davor zurückschreckten, Kinder zu töten und ganze Familien auszulöschen.
Sie hatte weder ihr Dorf noch ihren Vater noch ihre anderen nahen Verwandten je wiedergesehen. Geblieben war ihr nur die Erinnerung an einen schon damals alten Mann, der seine kleine, wissbegierige Tochter mit Geschichten und Weisheiten gefüttert hatte. Bis zu jenem Tag, an dem er ihr den Brief in die Hand drückte und sie gehen hieß.
Kinah brauchte ihn nicht zu lesen. Sie kannte jeden einzelnen Satz auswendig. Und einige davon kamen ihr in letzter Zeit immer wieder in den Sinn. Der Mann deines Lebens sieht nicht aus wie der Mann deines Lebens. Er verhält sich auch nicht so, sondern wie ein jämmerlicher, verfaulter Sack, in den Moder und Schimmel eingedrungen sind. Aber lass dich davon nicht täuschen. Mit ihm zusammen wirst du die beiden Kinder zeugen, die zu schützen eure Aufgabe sein wird.
Kinah starrte den Brief noch ein paar Sekunden lang an, dann ließ sie ihn in den Schutzumschlag gleiten, in dem sie ihn aufbewahrte, und steckte ihn in die Innentasche ihrer Lederjacke. Sie hatte in diesen Zeilen nach einer versteckten Botschaft gesucht, nach einer anderen Interpretationsmöglichkeit. Aber sie konnte einfach keine entdecken.
Sie wusste nicht, ob sie wirklich den Mann ihres Lebens gefunden hatte. Sie zweifelte, und ihre Zweifel wuchsen, je mehr sie verstand und je länger sie sich mit der anderen Aufgabe befasste, von der in dem Brief die Rede war.
Der Aufgabe, die Katastrophe aufzuhalten, die über die Menschheit hereinbrechen würde, wenn sie weiterhin ohne Sinn und Verstand die alte, natürliche Ordnung störte. Es ist das, was ihr euch herbeigewünscht habt: ein Wind, der eine schmerzliche Strafe mitführt. Und deine Aufgabe und die der deinen wird es sein, dafür zu sorgen, dass diese Strafe nicht zu schmerzlich ausfällt.
Von diesen Dingen verstand der Mann an ihrer Seite rein gar nichts, und davon wollte er auch nichts wissen. Ganz im Gegenteil zu dem Mann, auf den sie hier wartete.
***
Dirk hatte sich mit halb geschlossenen Augen an die Wand gelehnt und Kinah wie versprochen schweigend zugehört. Doch nun konnte er sich nicht mehr beherrschen, starrte in ihr Gesicht, das im flackernden Licht der Kerze wie eine aus schwarzem Marmor gehauene Statue aussah, und öffnete den Mund. »Wenn du mir jetzt beichten willst, dass du schon damals fremdgegangen bist und inzwischen mit einem anderen Mann mehrere Kinder hast, fängst du die Geschichte von der falsche Seite an!«, polterte er. »Ich will wissen, wo unser Kind ist! Und was du mit dem Verschwinden unserer Tochter zu tun hast!«
In Kinahs Züge kam Leben. »Das erzähle ich dir doch gerade! Willst du erfahren, was ich zu berichten habe, oder nicht?«
»Natürlich«, lenkte Dirk rasch ein. »Aber was hat der Unsinn mit den beiden Kindern zu bedeuten? Schließlich haben wir nur eine Tochter!«
»Das ist richtig«, pflichtete ihm Kinah bei. »Dennoch sind es zwei Kinder. Du wirst es bald verstehen, glaube mir.«
***
Graue Wolken zogen auf, und Kinah schlug fröstelnd den Kragen ihrer Jacke hoch und starrte zu dem von Efeu überwachsenen Gebäude hinüber, das mit seinen Erkern und Vorsprüngen wie eine kleine Trutzburg wirkte. Die dunklen Fenster kündeten davon, dass der Hausherr trotz ihrer Verabredung noch nicht da war, daher musste Kinah hier draußen in der Kälte ausharren. Bei anderen Witterungsbedingungen hätte sie das nicht sonderlich gestört, aber die Temperatur war innerhalb der letzten Viertelstunde um mindestens fünf Grad gefallen, und der Abwärtstrend schien damit noch lange nicht zu Ende zu sein. Zudem fischte der Wind auf und fuhr durch ihr Haar, als wollte er es vorsätzlich durcheinanderwirbeln.
»Wo bleibt der Typ bloß?«, murmelte sie. »Erst meldet er sich wochenlang nicht, dann schickt er mir eine SMS und sagt, es sei dringend …«
»Und da ist er schon!«, ertönte eine Stimme.
Kinah fuhr herum. Nur wenige Schritte entfernt stand Jan Olowski, ein jungenhaftes Grinsen auf den Lippen, die langen Haare ordentlich zurückgekämmt und zu
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