Sturm: Roman (German Edition)
unterdrücken können, und ahnte, was dann geschehen würde. Er würde den Mund aufreißen, die Luft einsaugen und mit ihr diese Wolke aus Gift.
Mit einer schwungvollen Bewegung zog er an dem Messer, und es sprang geradezu in seine Hand. Er richtete sich auf, so schnell er konnte, öffnete die Augen und wirbelte zu Kinah herum.
»Dirk!«, schrie sie. »Der Qualm.«
Seine Augen tränten und ein fürchterlicher Husten schüttelte seinen Körper. Aber der Anblick seiner Frau ließ ihn seine eigene Not vergessen.
Der dunkle, aufgewühlte Brodem stand Kinah im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals. Die ersten Tentakel griffen bereits nach ihrem Kinn. Dirk packte das Messer fester und stürmte auf sie zu.
»Schneid mich los!«, verlangte Kinah.
Das war leichter gesagt als getan. Die dichte Qualmschicht verbarg ihre Taille und mit ihr auch den Gurt, der sie umschloss. Dirk konnte nicht einfach zustechen und riskieren, dass er sie dabei verletzte. Aber er konnte sich auch nicht langsam herantasten. Es musste schnell gehen, sonst war Kinah verloren.
»Worauf wartest du?« Kinahs Stimme überschlug sich fast. »Mach! Oder ich sterbe.«
Dirks linke Hand suchte Kinahs Schulter, fand sie und glitt an ihr hinab. Er strich über ihren Oberarm, ihren Busen, weiter hinab – und dann schoben sich seine Finger zwischen ihre Bluse und den Gurt.
»Es kann jetzt sein …«
»MACH!«
Er nickte fahrig, setzte den Ballen seiner rechten Hand, in der er das Messer hielt, an seiner linken Schulter an und ließ sie hinabgleiten. Es war die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass er Kinah bei dem Befreiungsversuch keine Schnittverletzung zufügte. Dann kam der kritische Moment.
Er beugte sich tiefer und war nun wieder Wange an Wange mit Kinah. Ihr Kopf zitterte leicht, genauso wie ihr ganzer Körper; er spürte das Beben in seiner linken Hand. Kinah sog fast gierig die Luft ein, als fürchtete sie, schon im nächsten Moment nicht mehr atmen zu können. Doch dazu würde er es nicht kommen lassen. Der Handballen seiner rechten Hand lag jetzt auf seinem linken Handgelenk. Langsam drehte er das Messer um. Er konnte nur hoffen, dass es scharf genug war, denn er hatte keine Zeit, mit einem stumpfen Messer an dem Gurt herumzusäbeln.
Sein rechter Zeigefinger fuhr über die Klinge. Er spürte den Schnitt. Ja, sie war scharf. Er brachte das Wurfmesser in die richtige Position.
»Schnell!«, keuchte Kinah.
Sie brauchte ihn nicht anzutreiben. Die Schlieren hatten nun auch sein Kinn erreicht und waberten zu seinem Mund empor.
Dirk zog das Messer durch.
Es klemmte. Er wusste nicht, wo, und hatte keine Ahnung, was er dagegen tun sollte. Und er begriff, dass er zu wenig Schwung hatte, nicht weit genug ausholen konnte …
Seine Hand handelte wie von selbst. Einmal, zweimal, noch einmal. Der schwarze Qualm erreichte seinen Mund.
Plötzlich schoss die Klinge ein Stück nach oben.
Kinah stieß einen keuchenden Laut aus.
»Du bist frei!«, rief Dirk und sprang zurück.
Sie stemmte sich mit beiden Händen hoch.
»Nichts wie raus hier!«, schrie sie.
Dirk ließ das Messer fallen, packte sie und zog sie an sich. Ihre Lippen fanden sich wie von selbst. Es war Irrsinn, nicht sofort aus dieser brennenden Maschine zu verschwinden, die jede Sekunde in die Luft fliegen konnte, aber es war ein Irrsinn, dem sie sich beide mit Leib und Seele hingaben.
Der Kuss fegte die vergangenen drei Jahre einfach hinweg, löschte alles aus, was zwischen ihrer letzten leidenschaftlichen Vereinigung und diesem Augenblick passiert war. Kinah schwankte, als Dirk endlich von ihr abließ, und auch ihm erging es nicht besser. Er nahm ihre Hand.
»Und jetzt raus hier«, stieß er atemlos hervor. »Bevor uns die Lisunov doch noch in ihr Maschinengrab mitnimmt.«
Kapitel 29
Der sturmgepeitschte Regen hatte nur darauf gewartet, dass sie sich aus dem Flugzeugwrack hervorwagten. Die Urgewalt des umgeschlagenen Wetters sprang sie an, kaum dass sie die schützende Metallhülle verlassen hatten. Dirk geriet zwar nicht aus dem Gleichgewicht, musste sich aber unter der Bö hinwegducken, die ihm den Regen scheinbar aus allen Richtungen gleichzeitig ins Gesicht trieb. Er trat ein Stück zur Seite, dorthin, wo Kinah stehen geblieben war. In ihm tobten die unterschiedlichsten Gefühle. Der Kuss im brennenden Cockpit war wie eine Verheißung gewesen. Er hatte die Tür zu einem Bereich aufgestoßen, den Dirk all die Jahre tief in sich vergraben hatte: den Bereich der Sehnsucht
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