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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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und Liebe, die er in sich trug und die ihn um den Verstand gebracht hätten, wenn er sie nicht verdrängt hätte.
    Er ergriff Kinahs Hand und starrte mit zusammengekniffenen Augen zu der Stelle hinüber, von der ihnen das dumpfe Wummern von Hubschrauberrotoren entgegenschallte und gleißendes Licht entgegenschien. Der Scheinwerferkegel, der eben noch den nebelumwallten Boden vor ihnen beleuchtet hatte, wanderte zitternd nach oben und erfasste das Flugzeug hinter ihnen.
    Kinah erwiderte fest und ohne zu zögern den Druck seiner Hand. Dirk hätte sie am liebsten erneut in die Arme genommen. Er bebte innerlich – nicht nur wegen der brenzligen Situation, aus der sie sich gerade befreit hatten, oder wegen der Todesgefahr, in der sie immer noch schwebten, sondern auch wegen seines Verlangens, das ihn drängte, Zeit und Raum zu vergessen und seinen Gefühlen für Kinah einfach freien Lauf zu lassen.
    Als hätte die Besatzung des Hubschraubers seine Gedanken erraten und beschlossen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, richtete sie den Scheinwerferstrahl direkt auf ihn und Kinah. Das Licht war derart grell, dass sich Dirk abwenden musste, und er spürte, dass Kinah angespannt war wie ein sprungbereites Tier, das weiß, dass es gleich alles daransetzen muss, einem tödlichen Angriff zu entgehen.
    »Hierher!«, schrie eine Stimme hinter ihnen, die beinahe im Lärm der Rotorblätter unterging. »Raus aus dem Scheinwerfer!«
    Dirk gehorchte instinktiv. Er zog Kinah an sich heran und drehte sich zugleich so schwungvoll um, dass sie gezwungen war, die Bewegung mitzumachen. Gemeinsam stolperten sie los.
    Während Dirk geduckt auf das Heck der Lisunov zulief, versuchte er, das Gesicht aus dem Regen zu drehen – ein Kunststück, das schier unmöglich war, da der Wind aus allen Richtungen auf ihn einstürmte. Eiskaltes Wasser rann ihm in den Nacken und schwappte in seine Schuhe.
    »Was zum Teufel …«, begann Kinah. Doch als der Scheinwerferstrahl sie verfolgte, über sie hinwegglitt und das Heck der alten Sowjetmaschine streifte, verstummte sie.
    Dirk pfiff durch die Zähne. Die Lisunov hatte es schlimm erwischt. Wenn ein Schrottkran sie aus fünfzig Metern Höhe auf Betonboden fallen gelassen hätte, wäre das Ausmaß der Zerstörung kaum größer gewesen. Bei der Bauchlandung war ihre Unterseite aufgeschlitzt und die Kabine zusammengestaucht worden, wodurch ihre Proportionen seltsam verzerrt wirkten. Sie lag niedergestreckt am Boden, kaum mehr als ein Haufen Altmetall, dessen Innereien von einem Schmorbrand aufgezehrt wurden. Die Außenhülle war verbeult und zerkratzt, kurz vor dem Heck klaffte ein hässlicher Riss im Rumpf, und die Heckflosse hing so schief, als würde sie nur noch von der Macht der Gewohnheit gehalten. Aus sämtlichen Rissen und Öffnungen quoll dichter Qualm, der das Scheinwerferlicht schluckte und mit den feuchten Nebelschwaden verschmolz, die mit gierigen Fingern vom Boden aufstiegen, um das Flugzeugwrack in Besitz zu nehmen.
    »Hierher!«
    Dirk erkannte die Stimme. Sie gehörte Jurij. Wenige Minuten zuvor hatte ihn grenzenlose Wut auf den alten Mann erfüllt, nun war er nur noch verwirrt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Hubschrauber neben der Lisunov landen und sie mit einem Suchscheinwerfer beleuchten würde. Vielleicht würden die Insassen sie gleich unter Beschuss nehmen. Unter diesen Umständen war es verständlich, dass Jurij nicht in das Cockpit zurückgekehrt war – verständlich, aber in Dirks Augen trotzdem unentschuldbar.
    Sie erreichten das abgeknickte, zerstörte Heck, das Dirk auf makabere Weise an Kinahs Skulpturen in der Grotte erinnerte. Aus der regengepeitschten Dunkelheit tauchte vor ihm das Gesicht des russischen Piloten auf, nur schwach erhellt vom Scheinwerferlicht, das von der nassen Hülle der Lisunov reflektiert wurde. Jurij hatte die unförmige Fliegerbrille abgenommen, trug aber immer noch die abgewetzte Lederhaube. Bei seinem Anblick fielen Dirk schlagartig die Erzählungen seines Großvaters über deutsche Kradmelder ein, die zur Zeit der großen Panzerschlachten in Nordafrika mit dem Motorrad geheime Botschaften zwischen den verschiedenen Einheiten transportiert hatten.
    Auch die Kradmelder hatten solche Hauben getragen, wie ein vergilbtes Foto bewies, das seinen Opa in Wehrmachtsuniform auf einer 350er NSU zeigte, und auch sie waren in einen Kampf verstrickt gewesen, in dem es nur einen zweifelhaften Sieg oder eine völlige Niederlage hatte geben

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