Sturm: Roman (German Edition)
gab einen dumpfen, stöhnenden Laut von sich, klappte jedoch nicht zusammen, wie Dirk erwartet hatte, sondern schlug ganz im Gegenteil zurück und traf Dirk an der Schulter.
»Schluss jetzt!«, brüllte der Angreifer dabei, als wäre es Dirk allein, der den Kampf zu verantworten hatte.
Dirk machte einen Satz zur Seite, der ihn außer Reichweite seines Gegners bringen sollte, trat dabei auf etwas und geriet erneut aus dem Gleichgewicht. Während er mit einem großen Schritt über das Hindernis hinwegstolperte, fiel sein Blick automatisch nach unten.
Weiße Haare, ein zerfurchtes Gesicht, in dessen Falten das Licht zu versickern schien, und ein blutüberströmter Brustkorb. Der Schamane, tot, niedergestreckt von einer Kugel.
Dirk blieb keine Zeit, auch nur zu erschrecken. Er wurde an den Schultern gepackt und herumgerissen. Unfähig, in diesem Moment die Arme zu heben und anzugreifen, starrte er in das Gesicht seines Gegenübers. Der Mann war weit jünger, als er erwartet hatte, jünger noch als der Araber, der sich in den Grotten von Al Afra in seine Wade verbissen hatte.
Der Mann war kein Mann, sondern ein Junge von höchstens siebzehn Jahren.
»Hör mit dem Scheiß auf, Papa«, sagte er.
***
Es war eine Familienzusammenführung der besonderen Art. Dirk konnte kaum begreifen, dass er sich mit seinem eigenen Sohn geprügelt hatte – und dass Kinahs Vater tot zu ihren Füßen lag, erschossen wie in seiner Vision.
»Du sprichst Deutsch?«, war die erste dämliche Frage, die er stellte, nachdem ihre Identitäten hinreichend geklärt waren. Die zweite lautete: »Wie kommst du hierher?«
Die dritte sprach er nicht aus. Wie kann es sein, dass du weißhäutig bist wie ich, obwohl Akuyi so schwarz wie ihre Mutter ist? Er hätte sich diese Frage selbst beantworten können, denn die sensationslüsternen Boulevardmagazine im Fernsehen hatten schon vor Jahren darüber berichtet, dass es Zwillingspaare gab, bei denen das eine Kind eine helle und das andere eine dunkle Hautfarbe hatte. Doch er hatte nie auch nur im Entferntesten damit gerechnet, dass er der Vater eines solchen Zwillingspaares war.
»Shimeru hat mich hierher gebracht.« Noah war ganz in Schwarz gekleidet, sodass sein Gesicht und seine Hände das Einzige waren, was Dirk im Zwielicht erkennen konnte. Dadurch wirkte er seltsam irreal. »Er hat mir gesagt, ich wäre jetzt ein Mann und müsste auf dich, meine Mutter und meine Schwester aufpassen.«
Auf ihn aufpassen? Ein sechzehnjähriger Grünschnabel, der keine Ahnung von ihm und dem Leben hatte, das er in München geführt hatte? Wenn die Umstände anders gewesen wären, hätte Dirk darüber gelacht. Aber nun war ihm nicht im Geringsten nach Lachen zumute. Allein die Tatsache, dass sein Sohn vor ihm stand, von dessen Existenz er all die Jahre nichts gewusst hatte, hätte ausgereicht, um in seinem Inneren einen wahren Gefühlssturm zu entfachen. Hinzu kam der gewaltsame Tod des Mannes, der sie beide zusammengeführt hatte.
Noah kniete nieder, nahm die Hand seines Großvaters und saß schweigend und in sich gekehrt da. Sein Gesicht war wie versteinert, aber seine Halsschlagader pochte deutlich sichtbar.
Der Schamane lag in unnatürlich verkrümmter Haltung auf dem Boden. Seine Brust war regelrecht zerfetzt, als hätte ihn eines jener entsetzlichen Geschosse getroffen, die im Körper ihres Opfers explodieren. Der Anblick war ein derartiger Schock, dass Dirk in gebückter Haltung fast eine Minute lang reglos neben Noah verharrte und in die weit aufgerissenen Augen des alten Mannes starrte. Er las weder Angst noch Schmerz darin, sondern einen fast neugierigen Ausdruck, als hätte Shimeru dem Tod mit einer absurden Art von Hoffnung entgegengesehen. Dirk begriff, dass er nicht sofort gestorben war. Das Schicksal hatte ihm genug Zeit gelassen, Abschied von der Welt zu nehmen und bewusst in den Schoß seiner Ahnen zurückzukehren.
»Er war ein außergewöhnlicher Mann«, sagte Noah leise.
Dirk betrachtete seinen Sohn. Noah hatte weiche Gesichtszüge, und seine Augen waren so tief wie ein Bergsee. Er strahlte etwas aus, das Dirk bei einem Jungen in seinem Alter noch nie gespürt hatte. Es war nicht direkt Weisheit oder Abgeklärtheit, ging jedoch in diese Richtung. Noah schien in sich selbst zu ruhen, und obwohl ihn der Tod des Mannes, der ihn aufgezogen hatte, sichtlich erschütterte, verströmte er dennoch diese ganz besondere Aura, die eher einem weitaus älteren Menschen zugestanden hätte.
»Ja«,
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