Sturm: Roman (German Edition)
eine Ausgeburt seiner übersteigerten Fantasie war, die ihn gefangen hielt, sondern fürchterliche Realität.
Der Dicke wandte sich wieder ab, und das Flugzeug wurde von einem dritten Schlag getroffen. Er kam von unten und war ungleich härter als die beiden Schläge zuvor. Die Boeing hüpfte ein Stück hoch, krachte wieder um die gleiche Distanz nach unten und wurde erneut getroffen. Dann heulten die Triebwerke auf; es klang wie der verzweifelte Kampfschrei einer urzeitlichen Bestie, die sich aus einer heimtückischen Falle zu befreien versucht und doch weiß, dass sie zum Tode verurteilt ist.
Dirk wurde nach vorne geschleudert, und jetzt, endlich, riss er die Arme vors Gesicht.
Irgendetwas jagte an den Fenstern vorbei, gigantische Schatten, in denen Dirk schließlich lang gestreckte Gebäude und ferne Flugzeuge erkannte. Die Boeing vibrierte und schüttelte sich, aber sie verlor an Geschwindigkeit, anfangs kaum merklich, aber dann derart rasch, dass Dirks Verstand die Wahrheit zwar begriff, sein Gefühl diese Erkenntnis jedoch nicht annähernd verarbeiten konnte.
Sie waren gelandet. Der dritte Schlag war nichts anderes als das viel zu harte Aufsetzen auf der Landebahn gewesen.
Die Kabinenbeleuchtung flackerte erneut, und als Dirk in Biermanns Richtung blickte, kam es ihm vor, als sähe er einen Dämon im Flammenlicht des Höllenfeuers. Biermanns Gesicht wirkte verzerrt, und etwas Rotes lief über seine Stirn – Blut, wie Dirk erst begriff, als Biermann ein Papiertaschentuch hervorholte und sich damit die Stirn abtupfte.
»Mann«, sagte er heiser. »Ich habe schon sanftere Landungen erlebt.«
Irgendjemand klatschte, dann ein zweiter und ein dritter, und als Dirk den Kopf zum Gang drehte, sah er, wie Passagiere ihre Sicherheitsgurte lösten, aufsprangen und klatschten wie nach einer gelungenen Theaterpremiere. Ein vollkommen absurder Anblick, der Dirk mit einer fürchterlichen Wut erfüllte. Hatten die einen Knall? Der Pilot hatte sie fast umgebracht, und diese Idioten hatten nichts anderes zu tun, als ihm dafür auch noch zu applaudieren?
Der Lautsprecher über ihnen knackte, dann ertönte die fahrige Stimme des Flugkapitäns. Zuerst glaubte Dirk, einzelne Wörter zu verstehen, bis er erkannte, dass der Mann weder Englisch noch Deutsch sprach, sondern Französisch. Natürlich. Sie hatten ja keinen Lufthansaflug bekommen, sondern sich auf die Royal Air Maroc einlassen müssen, irgendeine windige Fluggesellschaft, die gefälschte Billigersatzteile einbaute, falls sie ihre Maschinen überhaupt wartete und reparierte, wie die internationalen Richtlinien es vorschrieben.
»Der Mann muss Nerven aus Stahl haben«, sagte Biermann anerkennend, nachdem der Kapitän seine kurze Ansprache beendet hatte.
»Was?«, fuhr Dirk ihn an. Er war noch immer vollkommen außer sich. »Wollen Sie ihm etwa auch noch dafür gratulieren, dass er uns fast umgebracht hätte? Dann kann ich nur sagen: Tun Sie sich keinen Zwang an! Springen Sie auf und spendieren Sie ihm Standing Ovations! Und vergessen Sie nicht, ihn in Ihrem Testament zu bedenken. Davon wird er ja schon sehr bald profitieren können, vor allem, wenn Sie nach diesem Erlebnis immer noch nicht kuriert sind und vom Flugzeug auf den Bus umsteigen!«
Biermann starrte ihn an, als wäre er total durchgeknallt (wovon er auch nicht mehr weit entfernt war, wie Dirk mit dem noch funktionierenden Rest seines Verstandes durchaus begriff) und sah dann auf das blutrote Taschentuch in seiner Hand. »Er hat irgendetwas von unerwarteten Luftturbulenzen gemurmelt.« Biermann zögerte, bevor er weitersprach, aber dann gab er sich sichtlich einen Ruck. »Hätte der Kapitän nach der ersten Luftturbulenz den Steigflug nicht gleich wieder abgebrochen und wäre runtergegangen – ich weiß nicht, was dann passiert wäre.«
»Ich wusste es ja«, sagte Dirk verächtlich. »Auch Sie werden Mitglied im Fanklub dieses bescheuerten Flugkapitäns, der uns im Namen seiner Schrott-Airline fast umgebracht hätte.«
»Die Royal Air Maroc ist keine Schrott-Airline …«
»Ach nein? Und warum taucht sie in der Statistik dann nicht unter den zwanzig sichersten Airlines auf, wie zum Beispiel die Lufthansa und die Air Canada?«
Biermann starrte ihn mürrisch an. »Sie haben einen Knall, wissen Sie das?«
»Ja, ich habe einen Knall, weil ich mich hier an Bord nicht zugesoffen habe, sondern meinen Tod nüchtern erleben wollte«, schimpfte Dirk. »Und das, obwohl ich genau wusste, was alles passieren
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