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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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entschuldigen, John.«
    Rastalocke starrte den Mann mit der Narbe an, als hätte dieser den Verstand verloren. Dann sprang er auf und durchquerte den Raum mit großen Schritten. Er riss die Tür auf, war mit einem Satz hindurch und knallte sie danach mit solcher Wucht zu, dass die Wände zitterten.
    Biermann seufzte. »Sieht nicht gerade so aus, als hätten Sie einen Freund fürs Leben gefunden. Aber lassen Sie sich durch Johns Auftritt nicht täuschen. Im Ernstfall können Sie sich hundertprozentig auf ihn verlassen.«
    Na klar, dachte Dirk. Genauso, wie sich Abel auf Kain verlassen konnte.

Kapitel 4
    In Dirks bisherigem Leben hatte es immer wieder Gelegenheiten gegeben, bei denen er in ein Flugzeug hatte steigen müssen; aber wenn es irgendwie möglich gewesen war, hatte er das Fliegen vermieden. Es war keineswegs so, dass er sich während eines Fluges krampfhaft in seinem Sessel festkrallen oder ständig durch irgendwelche Nebensächlichkeiten die Aufmerksamkeit der Stewardess auf sich ziehen musste, um seine Nervosität zu bekämpfen. Nein, ihm genügte es, wenn er die Nase in ein Buch stecken und so tun konnte, als würde er lesen, während er in Gedanken all das durchging, was den normalen Flugpassagier nur dann interessiert aufsehen lässt, wenn es von einer besonders attraktiven Stewardess präsentiert wird: die Sicherheitsmaßnahmen und Notfallprozeduren.
    Zumindest versuchte Dirk, sich darauf zu konzentrieren. Auf die Lage sämtlicher Notausgänge, wobei er selbst wie gewöhnlich einen Platz am Bugnotausgang bezogen hatte. Auf das richtige Anlegen der Sauerstoffmaske. Auf die Rettungsweste, die es ihm angeblich ermöglichte, nach einem Absturz so lange im Meer zu überleben, bis er von einer Rettungsmannschaft herausgefischt wurde …
    Es vermittelte ihm ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, sich mit solchen Gedanken zu beschäftigen. Eine, zwei, manchmal auch drei Sekunden lang. Dann blitzte vor seinem geistigen Auge die Sequenz aus einem Film auf, in dem Schiffbrüchige tagelang auf dem Atlantik trieben, bis sie vor Durst und Erschöpfung halb wahnsinnig wurden und Salzwasser tranken, oder eine Eigenproduktion seiner Fantasie, in der er von meterhohen Wellen überrollt wurde, bis sich die Kälte in seinen Körper fraß und er es nicht mehr schaffte, den Kopf immer und immer wieder hochzureißen, bis er den Mund zu einem stummen Schrei öffnete, das Wasser hineinströmte und er schlucken musste …
    »Voulez-vous boire quelque chose? Möchten Sie etwas trinken?«
    Es dauerte eine Weile, bis Dirk begriff, dass die Stewardess diese Frage schon mehrmals gestellt hatte. Er nickte hastig. »Wasser«, krächzte er, als sei er tatsächlich gerade erst nach tagelangem Treiben auf stürmischer See an Bord eines Fischerbootes gezogen worden.
    Die marokkanische Stewardess rang sich etwas ab, was man gerade noch als professionelles Lächeln durchgehen lassen konnte, und kam seinem Wunsch mit Bewegungen nach, die etwas zu eckig und hastig waren, als dass sie ihren Unmut hätten verbergen können.
    »Bitte schön«, sagte sie schließlich, was eher wie »Bitter-schön« klang, und reichte ihm einen durchsichtigen Plastikbecher.
    Dirk legte sein Buch beiseite und ergriff ihn mit zittrigen Fingern. Vielleicht war das ja das Letzte, was er für lange Zeit zu trinken bekam.
    »Sind wir schon über dem Mittelmeer?«, fragte er, gerade als sich die Stewardess umdrehte.
    Sie antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte sie begriffen, was in ihm vorging, und beschlossen, ihn einfach zu ignorieren, damit er sie nicht in eine Diskussion über Flugsicherheit verwickelte. Dirk konnte sie durchaus verstehen – mit dem kleinen Rest seines Verstandes, der noch zu logischem Denken fähig war. Der größere Teil war nicht mehr weit von der Panik entfernt. Wenn doch Kinah bei ihm gewesen wäre! Dann hätte er mit ihr Händchen gehalten – etwas, das er mit seinem jetzigen Sitznachbarn noch nicht einmal dann getan hätte, wenn die Maschine ins Meer gestürzt wäre.
    »Das Mittelmeer ist kaum mehr als ein Binnensee.« Biermann setzte die Plastiktasse mit dem Kaffee ab und verzog das Gesicht, als hätte er etwas unglaublich Widerliches getrunken. »Kein Grund, sich deswegen in die Hosen zu machen.«
    Dirk schloss einen Herzschlag lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte er die Rückenlehne des vor ihm sitzenden Passagiers immer noch viel zu nah vor der Nase. Das war zwar eindeutig besser als Biermanns Gesicht, aber ungefähr eine

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