Sturm: Roman (German Edition)
musste.
»Es gibt viele Geschichten, die ein Narr wie ich einem Mann erzählen kann, der willens ist, sich auf die alten Wahrheiten einzulassen«, sagte der Greis.
Dirk streckte die rechte Hand vor. Er spürte die Hitze des Feuers, aber sie war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, als bräuchte er jedes bisschen Wärme, dessen er habhaft werden konnte.
»Was für alte Wahrheiten?«, fragte er schließlich.
»Die Wahrheiten, die seit Anbeginn der Zeiten von Generation zu Generation überliefert werden«, antwortete der Alte. »Wahrheiten, die vom Vater auf den Sohn übergehen – oder auf jeden anderen Mann, der ihrer würdig ist.«
Dirk griff nach einem Aststück, das vor ihm auf dem Boden lag, und wog es in der Hand, unschlüssig, ob er es in das Feuer werfen oder damit darin herumstochern sollte. »Ich vermute, es geht dabei um Dinge, wie ich sie von Kinah, meiner Frau, erfahren habe.«
Der Alte schwieg für eine ganze Weile. Schließlich sagte er: »Kinah, ja. Ein ungewöhnlicher Name für eine ungewöhnliche Frau.«
»Wieso?«
Wieder hielt der alte Mann inne, bevor er weitersprach. »Kinah bedeutet in der Sprache ihres Volkes ›Die Eigensinnige‹.«
»Ja«, sagte Dirk heftig. »Das passt allerdings. Eigensinnig war sie schon immer.«
»Und stark genug, um die Last der Tradition auch in der Fremde zu tragen«, sagte der Alte leise.
»Woher weißt du das?«, fragte Dirk überrascht.
»Weil du aus der Fremde kommst. Aus einer Welt, in der Menschen wie wir nur überleben können, wenn sie bereit sind, neue Wege zu gehen.« Der Alte stockte für einen Moment. »Zu den neuen Wegen gehört auch, dass eine Frau ihrem Mann den Weg zur Spiritualität weist – eine Art der Weitergabe alten Wissens, wie sie sonst nur zwischen männlichen Verwandten üblich ist.«
Dirk schloss die Augen. Das Licht des Feuers flackerte rot durch seine Lider hindurch. Er bemerkte es kaum. Er sah Akuyi vor seinem inneren Auge, und er wusste, dass er hier richtig war. Was immer der alte Mann ihm erzählen wollte, es würde ihm Akuyi ein Stück näher bringen.
»Es gibt ein Geheimnis, das eigentlich keines ist«, sagte der Alte. »Alle Menschen wissen davon. Und doch auch wieder nicht.«
Dirk schlug die Augen auf. »Und das wäre?«
Der Alte erhob sich. Seine Knochen knarzten, ein ekelhaftes Geräusch, das Dirk durch Mark und Bein ging. Ein frischer Windstoß fuhr in das Feuer und ließ Funken aufstieben, die den Alten wie ein Schwarm bösartiger Insekten umschwirrten und sich in ihm festbissen. Aber das war nicht das Einzige, was Dirk erschauern ließ. Es waren die Bewegungen des alten Mannes. Sie hatten nichts Menschliches mehr an sich. Etwas in ihm wand sich und erbebte, es war, als dränge etwas aus ihm heraus.
»Am Anfang, vor Millionen von Jahren, war es der Baum, der Leben spendete.« Der Alte war jetzt bereits fast so groß wie Dirk, aber er schien immer größer zu werden. Er bewegte sich nicht wie ein Mensch, der sich streckte – es war eher ein Wachstumsvorgang, der gleichermaßen in die Höhe wie in die Breite stattzufinden schien, etwas, das vollkommen unmöglich war und doch mit einer Selbstverständlichkeit geschah, die Dirk sprachlos machte.
»Alle ursprünglichen Völker Afrikas kennen den Mythos vom Lebensbaum. Unzählige Legenden ranken sich um ihn, doch im Kern sind sie alle gleich.« Die Stimme des Alten hatte sich verändert. Sie klang jetzt kraftvoll und gewaltig wie Wasser, das einen steilen Fall hinabstürzt und alles mit sich reißt, was sich ihm entgegenstellt. »Spätere Völker machten den Garten Eden daraus, die Adina oder das Paradies. Aber gemeint ist immer dasselbe.«
Dirk war wie erstarrt. Er hätte vom Feuer abrücken können, dessen Ausläufer jetzt auch in seine Richtung herüberzüngelten, oder er hätte aufspringen und weglaufen können – aber er tat nichts dergleichen.
»Der Baum spendete Leben. Alle Bäume spenden Leben. Die Vorfahren der Menschen lebten gut in dieser Umgebung – bis sich das Klima änderte.«
Die Stimme des Alten veränderte sich mit seinen Worten, wurde trockener, brüchiger.
»Es kam der Zeitpunkt, an dem die Götter – Gott – eingriffen. Alle Menschen kennen dieses Geheimnis. Sie wissen, dass ihre Ahnen aus dem Paradies vertrieben wurden, aus einem ursprünglich fruchtbaren Gebiet, das durch den Wind austrocknete und in der langen Zeit der großen Stürme immer karger und unwirtlich wurde. Sie wissen, dass sie am Anbeginn der Zeit
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