Sturm: Roman (German Edition)

Sie war nicht besser oder schlechter ausgebaut als tausende anderer Küstenstraßen auch, eng und kurvenreich und manchmal so dicht am Abgrund vorbeiführend, dass Dirk schweißnasse Hände bekommen hätte, wäre er nicht ohnehin schon völlig aufgeregt gewesen. John hatte die Sonnenblende heruntergeklappt und blinzelte wie sie alle gegen die in erhabenem, rotem Glanz untergehende Abendsonne an, die es darauf angelegt zu haben schien, ihnen die Tränen in die Augen zu treiben, sodass sie ihre Umgebung wie durch einen Schleier wahrnahmen Immerhin bewies Rastalocke jetzt so viel Verstand, seine Fahrweise den Sichtverhältnissen anzupassen und den Wagen beinahe gemächlich rollen zu lassen, statt ihn mit hohem Tempo durch die Kurven zu jagen.
    »Wie weit ist es noch?«, fragte Janette schließlich.
    »Hinter einer der nächsten Hügelkuppen müsste das Ortsschild von Al Afra auftauchen«, antwortete Biermann »Wenn auch vielleicht nur in Arabisch. Ich hoffe, ich …«
    Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden.

Kapitel 6
    Ein dumpfes Grummeln erscholl, ein tiefes Dröhnen, und durch das eben noch ruhig wogende Meer ging eine ganz andere Art von Bewegung, ein gewaltiges Peitschen, das die Wellen zerriss und aufwühlte und in einen Hexenkessel ungeheuren Ausmaßes verwandelte. Es geschah so schnell, dass Dirk nur ein ersticktes Keuchen und Janette einen spitzen Schrei ausstoßen konnten. Eine riesige Faust schien durch das Wasser zu pflügen und es vor sich her zur Küste zu schieben, damit es alles zerschmetterte, was ihm in den Weg kam, und plötzlich wurde der Roamer von einer Bö getroffen wie wenige Stunden zuvor das Flugzeug. Er ruckelte und schwankte, und Rastalocke schien Mühe zu haben, das Steuer festzuhalten und den Wagen zu zwingen, auf der Straße zu bleiben.
    Die Wellen brachen unter ihnen gegen die Klippen. Weiße Gischt wurde aufgewirbelt und fegte über den Roamer wie ein sturmgepeitschter Nieselregen. Dirk hielt den Atem an; dann hatten sie schon die nächste Kurve erreicht und John gab Vollgas. Der schwere Wagen machte einen regelrechten Satz nach vorne. Wieder hatte John Mühe, ihn auf der Straße zu halten, wenn auch aus ganz anderem Grund als zuvor: Sie waren einfach zu schnell, um die nächste Kurve zu nehmen. Sie würden über den schmalen, kiesbedeckten Standstreifen donnern und ins Meer stürzen …
    Rastalocke trat auf die Bremse. Dirk wurde nach vorne geschleudert, doch der Sicherheitsgurt straffte sich und hielt ihn. Der rechte Vorderreifen, den Dirk vom Beifahrersitz aus zumindest indirekt sehen konnte, spritzte Steine und Schotter auf, und dann war er über dem Abgrund, lief frei …
    Dirk und Janette stießen gleichzeitig einen spitzen Schrei aus.
    Der Motor heulte wieder auf, als John erneut Gas gab. Er kurbelte wild am Lenkrad. Das Hinterteil des Off-Roaders drückte weiter nach vorne, drohte auszubrechen, ins Nichts hinauszuschieben. Doch dann ging plötzlich ein harter Ruck durch den Wagen, und er hatte wieder Grip und schoss in die andere Richtung, polternd und rumpelnd und fast widerwillig, als habe er sich bereits damit abgefunden, in die Tiefe zu stürzen und auf den Klippen zu zerbersten. Rastalocke spielte virtuos mit Gas, Bremse und Lenkrad, und dann waren sie wieder auf der Straße … und sahen sich einem hoffnungslos überladenen Kleinlaster gegenüber, der gerade viel zu schnell aus der nächsten Kurve heranschoss.
    Es war zu spät für ein weiteres Bremsmanöver. John steuerte den Geländewagen dermaßen nah an den Abgrund, dass Dirk sich bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden hinunterstürzen sah. Die beiden Fahrzeuge sausten millimeternah aneinander vorbei, und Dirk glaubte, ein metallisch knirschendes Geräusch zu hören, doch dann waren sie vorüber, und Rastalocke lenkte den Wagen zurück auf die Straßenmitte, ließ ihn ausrollen und brachte ihn schließlich zum Stehen.
    »Wow«, sagte er. »Die Kiste ist wirklich klasse! Mit irgendeinem Toyota oder Suzuki würden wir schon längst zerschmettert unten im Meer liegen.« Er drehte sich zu Janette um. »Vielleicht verstehst du jetzt endlich, warum ich auf einer Hochleistungsbremsanlage mit 380 Millimeter großen, gelochten Scheiben bestanden habe …«
    »Nicht zu vergessen die 8-Kolben-Festsättel an der Vorderachse«, murmelte Dirk.
    Janette holte aus und versetzte Johns Kopfstütze einen kräftigen Hieb, wahrscheinlich als Ersatz für die Ohrfeige, mit der sie Rastalockes Frisur gerne ein bisschen