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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nur zugreifen mussten, um ihren Hunger zu stillen, und … und dass das später nicht mehr genügte, um das Überleben der Sippe zu gewährleisten. Sie mussten in einer immer feindlicher werdenden Welt überleben, in der Savanne, in der Steppe, in der neue Gefahren und gefährliche Raubtiere lauerten. Doch dafür benötigten sie Fertigkeiten, mit denen sie sich über ihre Nahrungskonkurrenten erheben konnten.«
    Der Alte war nicht länger Mensch. Er schien nicht bloß zwei, sondern mehr Arme zu haben, sechs oder acht oder zehn, die sich ausbreiteten und nach den Funken griffen, die sie umschwirrten.
    »Der Lebensbaum war nicht tot. Aber er entließ seine Kinder in eine neue Freiheit. Und nun, ohne den Schutz der Bäume, blieb den Ahnen nichts anderes übrig, als schneller zu laufen als zuvor und sich mit Lauten zu verständigen, wenn sie erfolgreich jagen und sich vor ihren Feinden verbergen wollten. Und es entstanden die ersten Menschenrassen, die aufrecht gingen und aus den Urlauten, dem unverständlichen Geheul etwas bildeten, das mächtiger ist als alles andere auf unserer Welt: die Sprache.«
    Ein merkwürdiges Zittern durchfuhr das, was eben noch wie ein alter Mann ausgesehen hatte. Und dann stand er still, in all seiner Knorrigkeit. Nichts Menschliches war mehr an ihm. Er war zum Lebensbaum geworden. Seine Stimme wurde rau und träge, als bereite es ihm zunehmend Mühe, aus Silben Wörter und aus Wörtern Sätze zu formen.
    »Die Sprache und die Musik. Das ist das zweite … Geheimnis, das jeder kennt und doch wieder nicht: dass der Mensch … ohne Sprache nichts ist, aber auch nichts ohne Musik. Vielleicht ist die Musik sogar noch wichtiger. Denn durch die Sprache kommuniziert der Mensch nur … nur mit sich selbst, durch die Musik aber auch … auch mit seinem Ursprung, mit dem, was der Lebensbaum symbolisiert …«
    Die Worte, gegen Ende kaum noch verständlich, versiegten schließlich ganz. Dafür öffnete sich eine zuvor fest verschlossene Tür in Dirks Erinnerung, und gleichzeitig erfasste er einen Zipfel der allgemeingültigen Wahrheit, die in der Rede des Alten mitgeschwungen hatte. Und nicht nur das: Er wusste plötzlich, wo er Akuyi finden würde und warum sie dort war, und er begriff, warum Kinah den Weg über die Musik gewählt hatte, warum der Alte ausgerechnet jetzt zu ihm gekommen war und warum die Zeit drängte, warum er sich beeilen musste, wollte er die Katastrophe aufhalten, die ihm und so vielen anderen Menschen drohte …
    »Irgendwann solltest du mal aus dem Kreisverkehr rausfahren«, rief plötzlich jemand in sein Ohr.
    Alles, was Dirk eben noch gewusst zu haben glaubte, entglitt ihm. Der Alte sank innerhalb eines Lidschlags in sich zusammen, und das Feuer stob noch einmal auf, um sich dann mit erschreckender Geschwindigkeit zu verzehren und zu erlöschen.
    »Aber ich habe keine Ahnung, wo wir lang müssen«, schimpfte Rastalocke. »Und neben mir schnarcht einer, dass es die Sau graust.«
    »Rechts geht's nach Casablanca, Schatzimausi«, sagte Janette. »Wir müssen in Fahrtrichtung links. Links ist da, wo der Daumen rechts ist. Und nun mach schon, bevor ich seekrank werde!«
    Rastalocke bog mit quietschenden Reifen ab. Dirk rutschte nach links, hatte plötzlich einen Haarschopf im Gesicht und knallte dann auch schon mit dem Kopf gegen Janette.
    »Oh Mann, können Sie nicht aufpassen?«, schimpfte diese und ließ sich nach hinten auf ihren Sitz fallen.
    »Halt die Klappe«, murmelte Dirk.
    »Was?«
    »Ich sagte: Halt …« Er verstummte. Die Erinnerung daran, was er eben geträumt hatte, verblasste so schnell, dass er Mühe hatte, sich überhaupt noch Details ins Gedächtnis zu rufen. Dabei spürte er, dass es ungeheuer wichtig war, den Traum nicht entschwinden zu lassen – wie es so oft geschah, wenn man am Morgen aufwachte und kaum mehr wusste, was einem gerade noch den Angstschweiß auf die Stirn getrieben und den Puls zum Rasen gebracht hatte.
    »Ein bisschen nett, ja?«, maulte Janette.
    »Ja«, murmelte Dirk. »Ein bisschen nett wäre nicht schlecht.«
    »Was soll das nun wieder heißen?«, fragte Janette beleidigt.
    Sprache und Musik, darum war es gegangen, da war sich Dirk ganz sicher. Um den Ursprung der Menschheit. Um das, was Menschen ausmachte und dazu befähigte, mit dem zu kommunizieren, was der Lebensbaum symbolisierte.
    Auch um Kinahs Musik?
    Der Gedanke war logisch und zugleich abwegig, oder schlicht gesagt: Dirk hatte nicht die geringste Ahnung. Und das war nicht das

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