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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wieder und wieder erzählt hatte, etwas, das durch die Einflüsse der Zivilisation verschüttet und doch allen Menschen gemeinsam war; und dieser sechste Sinn trieb ihn jetzt voran, ließ ihn über einen Kiesweg gehen, vorbei an einem Rosenstrauch und prachtvollen Pflanzen, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte.
    Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Der Kies knirschte laut unter seinen Füßen, und selbst das Vogelgezwitscher und das Geräusch der Brandung erschienen im plötzlich unangenehm schrill und misstönend. Kinah. Er hätte gerne mehr gespürt als das unbestimmte Gefühl, dass sie ganz in der Nähe war, er hätte gerne gewusst, wo genau sie sich befand.
    Dirk warf einen unruhigen Blick auf das Fenster, an dem er gerade vorbeikam. Es reflektierte die letzten Sonnenstrahlen, sodass er nicht mehr als die groben Umrisse eines Tisches, einiger Stühle und einer Kommode erkennen konnte. Das nächste Fenster gewährte ihm Einsicht in ein Schlafzimmer. Er sah ein Bett, das mit seiner Blümchendecke zugleich spießig und anheimelnd wirkte, einen großen Rattanstuhl und einen alten, offenbar liebevoll restaurierten Kleiderschrank, neben dem eine Gitarre an der Wand lehnte.
    Gitarre, Musik, Kinah … Das Instrument war nicht mehr als ein kleines Indiz dafür, dass sie tatsächlich hier gewesen sein könnte, aber es elektrisierte ihn geradezu.
    Er erreichte die zu dem Bungalow gehörende Terrasse. Ein paar billige, wohl ehemals weiße, inzwischen aber schmutzig graue Plastikstühle gruppierten sich um einen Liegestuhl, in dem jemand mit einem Sonnenhut über dem Gesicht dermaßen laut schnarchte, dass er sogar die Brandung übertönte.
    Natürlich war es nicht Kinah. Um das zu erkennen, bedurfte es nicht einmal eines zweiten Blicks. Die Gestalt trug ein schmuddeliges Holzfällerhemd und eine Kordhose, hatte ungepflegtes, strähniges blondes Haar, das noch länger war als Johns, war weiß und ein Mann.
    Dirk starrte ihn einen Herzschlag lang unentschlossen an und wandte sich dann zum Strand, der links von der Klippe und ein ganzes Stück weiter rechts von einem Bootsschuppen begrenzt wurde. Er war menschenleer und voller Unrat. Verbeulte Getränkedosen, leere Weinflaschen, zerknüllte Papiertüten und die Überreste von Mahlzeiten, die eher an McDonald's denken ließen als an einheimische Kost, türmten sich wie auf einer riesigen Müllhalde, dazwischen aber auch Gräten und verwesende Fischköpfe und etwas, das wie ein benutztes Kondom aussah. Wahrscheinlich hätte sich Dirk angeekelt weggedreht, wenn ihn nicht etwas für diesen unappetitlichen Anblick entschädigt hätte.
    Das Meer schien in Flammen zu stehen. Auf der Oberfläche vermischten sich satte Gelb- und Rottöne, und die Gischt wirkte wie Funken, die aus den Wellen schlugen, um kurz darauf wieder ins Meer zu stürzen. Am Himmel setzten sich die leuchtenden Farben fort, nur dass die Rottöne hier nach oben zu entschwinden schienen.
    Es war ein Sonnenuntergang, wie ihn Dirk noch nie zuvor gesehen hatte. Doch das war nicht alles – dort draußen geschah etwas. Vor seinen Augen passierte etwas mit dem Ozean, der siebentausend Kilometer weiter westlich die Küste von New Orleans umspülte. Dirk nahm eine schattenhafte Bewegung wahr, die sein Unterbewusstsein als Vorbote einer Katastrophe registrierte. Da draußen braute sich etwas zusammen, das den ganzen Küstenstrich verwüsten konnte.
    Er verscheuchte den absurden Gedanken und ging zurück zu dem Bungalow mit der Terrasse.
    Der Mann im Liegestuhl schnarchte nicht mehr, im Gegenteil – er richtete sich mit einer raschen Bewegung auf, wobei seine Haare erst über den Boden fegten und ihm dann in Form einiger verfilzter Strähnen ins Gesicht fielen. Schließlich stand er leicht schwankend da wie jemand, der den Abend mit Rotwein oder Härterem eingeläutet hatte.
    »Que … que fais-tu ici?«
    Dirk verstand im ersten Moment nicht, was der Mann von ihm wollte, bis er begriff, dass er Französisch mit einem schweren Akzent sprach. Es klang fast wie ein deutscher Akzent.
    Es war zumindest einen Versuch wert. »Ich suche jemanden«, erwiderte er.
    Der Langhaarige nickte. »Tun wir das nicht alle?«
    Dirk seufzte. Er hatte keinen Bedarf an pseudointellektuellen Diskussionen.
    »Wohnen Sie allein hier?«, fragte er.
    Der Langhaarige zuckte mit den Schultern. »Wohnen wir nicht irgendwie alle allein?«
    Dirk kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Hören Sie
    »Nein, hören Sie mal«, unterbrach

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