Sturm: Roman (German Edition)
sie zu, packte Janette an der Hand und riss sie mit sich. »Jeder ein Zimmer! Bevor dieser Verrückte raufkommt und uns ein Loch in den Pelz brennt.«
Es dauerte eine Sekunde, bis Dirk verstand. Biermann hatte recht, sie mussten die Gelegenheit nutzen, um sich so gut es ging einen Überblick über den Bungalow zu verschaffen. Vielleicht war Kinah ja tatsächlich noch hier oder hatte zumindest irgendeine Spur hinterlassen.
Er rannte hinter Biermann und Janette her, wobei seine durchweichten Schuhe unangenehm quatschende Geräusche von sich gaben. Janette stürzte durch die nächste Tür, hinter der sich anscheinend die Küche befand, denn Dirk erhaschte einen Blick auf einen Stapel schmutzigen Geschirrs. Biermann bog nach links ab, zu dem Schlafraum mit der an der Wand lehnenden Gitarre.
Für Dirk blieb das Wohnzimmer. Es war nicht besonders groß. Als Erstes fiel ihm die relative Ordnung auf, die in dem Raum herrschte, als Zweites die typische Ferienhauseinrichtung mit dunklen Holzmöbeln und als Drittes das Keyboard in der Ecke, neben dem Bongos und ein kleiner Gitarrenverstärker mit eingebautem Effektmischer standen. Es gab keinen Computer oder sonst irgendetwas, das auf ein Tonstudio hingedeutet hätte, sondern nur Anzeichen dafür, dass hier intensiv Musik gemacht wurde.
Er blickte sich suchend um. Ein Zeitschriftenstapel auf dem Boden, ein paar leere Cola- und Bierflaschen – wie in einem ganz normalen Haushalt, in dem Kreativität über den Putzfimmel triumphierte. Die Masken, die er eigentlich erwartet hatte, fehlten genauso wie andere afrikanische Reliquien oder Hinweise darauf, dass sich Kinah hier häuslich niedergelassen hatte.
Vor dem Tisch in der kleinen Essecke blieb er unschlüssig stehen. Irgendetwas dort erregte seine Aufmerksamkeit, ohne dass er hätte sagen können, was es war. Dann entdeckte er es – hinter einer Obstschale mit einer schwarzen, vergammelten Banane, ein paar eingetrockneten Weintrauben und einem Apfel, der so frisch und knackig aussah, dass nicht bloß Schneewittchen nicht hätte widerstehen können.
Neben einem zerlesenen, großformatigen Buch mit zwei afrikanischen Holzfiguren auf dem Cover und dem Titel Ibeji: The Cult of Yoruba Twins, das Dirk vage bekannt vorkam, lag ein Stoß Blätter. Auf dem ersten Blatt standen ein paar hastig hingekritzelte Noten und darunter einige Zeilen einer beinahe unleserlichen Handschrift. Dirk griff gedankenverloren nach dem Apfel und biss hinein. Er schmeckte süß und lieblich, genauso, wie Obst schmecken musste – wenn er es denn ausnahmsweise einmal aß. Er biss ein zweites Stück ab. Die Blutspur auf der Treppe, das, was sie unten im Keller vorgefunden hatten, ja sogar der Langhaarige mit seiner Schrotflinte – all das war vergessen. Erst nach dem dritten Bissen, und kauend, als hätte er seit einer Ewigkeit nichts mehr zu essen bekommen, griff Dirk mit zitternden Fingern nach dem Schwung Papier.
Die Blätter raschelten unnatürlich laut in seinen Ohren. Er kannte Kinahs Handschrift. Vielleicht sogar besser als Akuyis, obwohl er seit Jahren ihre Hausaufgaben kontrollierte. Kinah beherrschte mehr Sprachen, als sich Dirk überhaupt zu lernen vorstellen konnte, und verfasste auch in unterschiedlichen Sprachen Notizen. Das alles wusste er. Aber bislang hatte er nicht einmal geahnt, dass er tatsächlich einen Beweis dafür finden würde, dass sich Kinah in diesem Haus aufgehalten hatte.
Nun hielt er ihn in der Hand.
Die Sätze auf dem ersten Blatt stammten eindeutig von Kinah.
Kapitel 8
»So, jetzt reicht es mir!«, schimpfte Janette. Sie trat auf die Bremse und lenkte den schweren Wagen in einen kleinen, von dichtem Buschwerk halb zugewachsenen Weg, den Dirk vollkommen übersehen hatte – was auch kein Wunder war, denn er versuchte mit fliegenden Fingern, den in letzter Sekunde aus dem Bungalow geretteten Papierstapel nach einem konkreten Hinweis zu durchforsten, was sich angesichts der unruhigen Fahrt über die kurvenreiche marokkanische Landstraße und der gedimmten Innenbeleuchtung bislang als ziemlich hoffnungsloses Unterfangen erwiesen hatte. Als er nun den Kopf hob, sah er gerade noch, wie Kies und Dreck unter den Vorderreifen aufspritzten, dann kam der Roamer zum Stehen.
Hinter ihm wühlte sich Rastalocke unter einem Wust von Campingzubehör hervor, den er auf der Suche nach einer Waffe aus den Seitenfächern und den Stauräumen unter der Ladefläche herausgerissen hatte. »He, was soll das?«, fluchte er. »Willst du uns
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