Sturm: Roman (German Edition)
sich.
Dirk sah jetzt nur noch die zerstörte Hälfte ihres Gesichts, an der nichts Menschliches mehr war. Sie war wie aufgerissen, grünschwarz schimmernd, mit scharfkantigen Einschnitten. Dort, wo ein Auge hätte sein sollen, war nur eine leere, weiß-rötlich schimmernde Höhle.
Er erstarrte. Es war schrecklich, Kinah so sehen zu müssen, es war mehr, als er ertragen konnte.
Die Welt um ihn herum fing an zu flackern, als würde sich sein Gehirn schrittweise abschalten, als verringere es nach und nach seine Fähigkeit zur Wahrnehmung. Er verlor nicht das Bewusstsein, er verlor den Kontakt zu seiner Umgebung.
Und zu Kinah.
Sie begann zurückzuweichen – oder sich aufzulösen, Dirk wusste es nicht. Es war ein fürchterlicher Prozess, der innerhalb einer Zeitspanne ablief, die sich nicht in Minuten oder Sekunden messen ließ, die nicht den Gesetzen jener Welt gehorchte, in der alles stets irgendwie erklärbar war.
Die Schemen um Kinah herum stoben durcheinander, als würde ein heftiger Windstoß in sie fahren. Ein Teil von Dirks Seele erkannte die Ähnlichkeit mit dem Feuer, an dem er mit dem Alten gesessen hatte und das ebenfalls vom Wind zerrissen worden war. Sein Verstand hingegen begriff gar nichts.
Das Letzte, was er von Kinah sah, war die fließende Bewegung ihres Arms, der in eine bestimmte Richtung deutete.
Die Richtung, in die er zu gehen hatte.
Er stolperte los.
Kapitel 12
»Warum bist du gekommen?« Die Frage erreichte Dirks Bewusstsein mit einiger Verspätung. Er hätte sie auch nicht beantworten können. Er wusste ja nicht einmal, wo er war.
Um ihn herum war es dunkel. Nur vor ihm glommen ein paar Holzscheite, leuchteten mit letzter Kraft. Und erst, als sich Dirk bewusst wurde, dass er an einem erlöschenden Feuer saß, fiel ihm auf, wie kalt es war. Eine beißende Kälte, die in ihn eindrang und ihn innerlich erstarren ließ.
»Du hättest nicht kommen sollen.«
Dirk starrte in die verglimmende Glut. Er hätte den Kopf heben und in die Richtung des Mannes blicken können, der ihn angesprochen hatte. Aber er tat es nicht.
Es wäre sinnlos gewesen. Dort war nichts als Finsternis. Eine derart erstickende Finsternis, dass er sich fragte, wie überhaupt etwas in ihr existieren konnte.
»Kinah.«
Bei der Erwähnung ihres Namens zog sich sein Inneres schmerzhaft zusammen Eben noch hatte er sie gesehen. Aber es war nicht seine Kinah gewesen, nicht die warmherzige, wunderschöne Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Sondern ein Monster.
Was nichts daran änderte, dass er seine Kinah liebte und vermisste.
Nun hob er doch den Blick.
Wider Erwarten sah er etwas. Kein Gesicht und keinen Körper – nicht einmal andeutungsweise –, sondern Augen. Auch sie waren eher zu erahnen als wirklich zu erkennen, aber das änderte nichts daran, dass er den Mann nicht länger verleugnen konnte, der auf der anderen Seite der erbärmlichen Restglut am Boden hockte.
»Wo bin ich hier?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. Dirk konnte es natürlich nicht sehen, aber er spürte es.
»Am Anfang und am Ende.«
Dirk verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Hatte er wirklich geglaubt, dass er auf seine Frage eine vernünftige Antwort bekommen würde?
»Vor vier Millionen Jahren begann hier der Lebenszyklus des ersten Menschengeschlechts. Diese Menschen waren noch nicht wie du und ich. Sie fingen gerade erst an, aus Lauten Worte zu bilden und einfache Werkzeuge herzustellen. Aber sie gingen aufrecht wie wir, und sie waren in der Lage, Fragen zu stellen. Zum Beispiel die Frage, wo sie waren und wie sie dorthin gekommen waren.«
Dirk biss sich auf die Unterlippe. Er schmeckte salziges Blut, aber es half nicht. Der Schmerz in seiner Seele ließ nicht nach und auch nicht die Verwirrung seiner Gedanken.
»Sind das nicht auch die Fragen, die dich bewegen?«, sagte der Mann unbarmherzig.
»Ja. Aber nicht nur.«
»Vier Millionen Jahre. Weißt du eigentlich, wie unermesslich lang dieser Zeitraum ist?«
»Nein«, erwiderte Dirk heftig. »Und es ist mir auch egal. Ich suche Kinah – und meine Tochter. Kannst du mir dabei helfen?«
»Vier Millionen Jahre – das ist nichts für die Geschichte der Erde oder gar des Alls. Aber für uns Menschen ist es eine Ewigkeit. Es sind fast zweihunderttausend Generationen, die geboren wurden, ihre Zeitspanne gelebt haben und qualvoll oder friedlich gestorben sind.«
»Wo ist meine Frau? Wo ist meine Tochter?«
»Auch deine Frau und deine Tochter gehören zu diesen
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