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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Generationen. Zu zwei dieser zweihunderttausend Generationen. Kannst du dir vorstellen, dass sie dennoch das Erbe der ersten Menschen in sich tragen?«
    Nein, das konnte Dirk nicht, und es wäre auch vollkommen unmöglich gewesen. Zweihunderttausend Generationen von den ersten Frühmenschen bis hin zu Kinah und Akuyi – das war keine Ahnenkette, das war eine unfassbare Ewigkeit. Wie hätten Verstand und Seele die Bedeutung dieser scheinbar unendlichen Abstammungslinie erfassen können?
    Dirk schüttelte den Kopf.
    Viel wichtiger als jede Vergangenheit waren ihm die zwei Menschen, die zu seiner eigenen Familie gehörten. »Wo sind die beiden? Weißt du das? Kannst du mir helfen?«
    »Helfen kannst du dir nur selbst«, antwortete der Mann. »Und das tust du schon. Trotzdem zurück zu meiner Frage: Warum bist du gekommen?«
    Dirk wollte die Hand heben, um nach einem Ast zu greifen und das Feuer neu zu entfachen. Aber es ging nicht. Er konnte seine Hand nicht bewegen. In ihr war ein fürchterlicher Schmerz, der den Gedanken daran, die Finger um etwas zu schließen und es festzuhalten, vollkommen absurd erscheinen ließ.
    »Ich brauche Hilfe«, sagte er schließlich.
    Der Mann nickte. Auch das sah Dirk nicht, sondern spürte es nur.
    »Ja. Du brauchst Hilfe, so wie jeder Mensch. Das ist auch der Grund, warum wir überhaupt unsere Sprache entwickelt haben. Um uns gegenseitig zu helfen.«
    »Und zu streiten«, sagte Dirk bitter.
    »Mit Worten zu streiten, statt uns gleich die Schädel einzuschlagen … ja«, antwortete der Mann. »Auch wenn das nicht immer reicht. Worte können verkomplizieren, irreführen, beschönigen, Gründe für Gewalt und Vernichtung liefern. Aber sie können auch beschwichtigen, Visionen aufzeigen, zu neuen Horizonten führen. Jeder einzelne Mensch muss wählen, wie er die Sprache benutzt: um Gewalt zu beschönigen oder um einen friedlichen Weg aufzuzeigen.«
    »Das alles interessiert mich nicht!«, rief Dirk. »Ich will meine Frau und meine Tochter!«
    »Du Narr!« Auch der Mann erhob jetzt die Stimme. »Glaubst du wirklich, du wirst zu ihnen finden, wenn du die Augen vor den großen Wahrheiten verschließt? Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass du deine Frau und deine Tochter nicht wiedersehen wirst, wenn du dich nicht dem stellst, was auf dich und alle Menschen zukommt?«
    »Und was ist das?«, fragte Dirk.
    »Die Vernichtung eurer Zivilisation, der Zusammenbruch von allem, was eure Welt zusammenhält«, sagte der Mann. »Und der Tod von Kinah, Akuyi und ihrem Volk.«

BUCH II
    Und als sie eine Wolke auf ihre Täler zukommen sahen,
    sagten sie: »Das ist eine Wolke, die uns Regen bringen wird!«
    »Nein! Es ist das, was ihr euch herbeigewünscht habt:
    ein Wind, der eine schmerzliche Strafe mitführt.«
    Sure Al-Ahqaf 46:24

Kapitel 13
    Dirk hielt keuchend inne. Das Feuer, das sich vom Rattenbiss ausgehend in seinen Adern ausbreitete, hatte sich mittlerweile brennend und ätzend weitergegraben und ihm die Gewalt über seinen Arm geraubt, der nutzlos hinabbaumelte, als würde er gar nicht mehr zu ihm gehören. Es hätte nicht schlimmer sein können, hätte man ihm Säure injiziert, die heiß und beißend seine Adern und Blutgefäße zerfraß, um dann auf Gewebe, Muskeln und Sehnen überzugreifen und sie in ihre Bestandteile aufzulösen. Er hatte keine Ahnung, ob es ein Virus war oder etwas, auf das sein Körper allergisch reagierte, aber was auch immer über die Bisswunde in seinen Körper eingedrungen war, würde ihn umbringen, wenn er nicht schnellstens in die Hände fähiger Ärzte kam.
    Und vielleicht sogar dann.
    Nicht, dass ihn dieser Gedanke wirklich schreckte. Den Schrecken hatte er schon hinter sich. Kinahs Anblick – unglaublich anziehend und abstoßend zugleich, eine grausige Verschmelzung von Leben und Tod, von unversehrter Anmut auf der einen und fürchterlicher Entstellung auf der anderen Seite – hatte sich tief in seine Seele eingebrannt. Er stand mit seiner Grausamkeit in nichts der qualvollen Begegnung mit Akuyi nach, die plötzlich zum Greifen nah vor ihm erschienen war und sein Herz vor Freude und Hoffnung hatte rasen lassen, bevor er sie wieder verloren hatte.
    Das war grausam. Grausam, unfassbar und vollkommen sinnlos. Aber es änderte nichts an seiner Entschlossenheit. Die Angst uni Akuyi und Kinah trieb ihn unbarmherziger voran, als ein Drilloffizier seinen unfähigsten Rekruten vorangetrieben hätte. Die Sehnsucht nach Kinah, nach der Berührung ihrer zarten

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