Sturm: Roman (German Edition)
über den roten Bereich hinausdrehte und im nächsten Augenblick explodieren würde.
»Du musst deine Tochter …«
»Du musst sie finden …«
»Du musst ihr Freiheit geben …«
»Du musst sie ihren eigenen Weg finden lassen …«
In seinem Kopf dröhnte ein Gewirr von Stimmen, und in seiner Seele loderte das Verlangen, seine verfluchte Schwäche abzuschütteln und das zu tun, was getan werden musste: seine Tochter zu retten. Ja, wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, Akuyi eine Zeit lang nicht auf ihrem spirituellen Weg zu begleiten, ja ihn stattdessen sogar zu torpedieren, und es war mit Sicherheit ein Fehler gewesen, sich zu oft zwischen Kinah und Akuyi zu stellen (auch wenn er das damals gar nicht so gesehen, sondern geglaubt hatte, dass er zwischen zwei Kulturen vermittelte, obwohl er in Wirklichkeit die afrikanische verneint hatte), und es war letztlich auch falsch gewesen, sich mit Mario zu überwerfen, statt seine Hilfe dankbar anzunehmen.
Er konnte es nicht ändern.
Stöhnend sank er zu Boden.
Dirk wusste nicht, wie lange er reglos und verzweifelt dagelegen hatte, vielleicht Stunden, vielleicht auch nur wenige Minuten. Als er den Kopf hob, sah er ein paar Meter vor sich Kinah stehen.
Sie war nicht mehr als ein dunkler Schemen vor dunklem Hintergrund, durchwoben von dem grünlichen Licht, das alles hier unten einhüllte und zu durchdringen schien. Dirk reckte den Kopf höher und sah sie schweigend an.
Sie war ein Stück größer, als er sie in Erinnerung hatte, und weitaus schlanker, fast so dürr wie eines der Models, die er trotz ihrer oft ansprechenden Gesichtszüge nicht als vollwertige Frauen wahrnahm. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie schien gar nicht auf dem Boden zu stehen, sondern einige Zentimeter über ihm zu schweben. Und das war bei weitem noch nicht alles.
Das Schlimmste war ihr Gesicht. Die linke Gesichtshälfte war so makellos schön wie immer, wie von einem begnadeten Künstler aus Ebenholz geschnitzt. Die andere Hälfte jedoch war eine einzige klaffende Wunde. Das Fleisch wirkte zerfurcht und zerfressen, als wäre es mit Säure übergossen worden. Diese Wunde würde nie wieder heilen.
Dirk blickte sie ruhig und gefasst an. Sein Gefühlsaufruhr war verstummt. Es war nicht das erste Mal, dass er Kinah vor sich zu sehen glaubte, seitdem ihm auch Akuyi genommen worden war. Bei jenem ersten Mal war er aus Kinahs Zimmer gekommen und hatte aus Versehen die Tür dermaßen kräftig zugeknallt, dass sich der an der Wand darüber angebrachte Holzspeer selbstständig machte. Im allerletzten Moment hatte sich Dirk mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit gebracht. Die Speerspitze durchstieß das Blatt Papier, das er in den Händen hielt – genau an der Stelle, an der Kinah in ihrer kaum lesbaren Schrift Vor seiner Herkunft kann niemand fliehen vermerkt hatte –, und fuhr vor ihm ins Parkett.
Bei seinem hastigen Ausweichmanöver stolperte er, schlug lang hin und prallte mit dem Kopf gegen den Türrahmen.
Er verlor nicht das Bewusstsein, war aber sehr benommen. Und als er aufblickte, sah er eine Gestalt davonhuschen: schlank, hoch gewachsen, schwarze kurze Haare. Kinah.
Seitdem hatte er sie noch zwei Mal gesehen. Jedes Mal war er vorher gestürzt oder hatte sich irgendwo gestoßen, und jedes Mal hatte es mit einer afrikanischen Reliquie zu tun: Einmal war es ein Totem gewesen, das ihm vor die Füße gefallen war, das andere Mal war er gegen die Skulptur in der Eingangshalle gelaufen, die Kinah aus Holz und Metall gefertigt und Der Gründungsvater genannt hatte. Immer war es ein Huschen und Hasten gewesen, mit dem Kinah das Haus verlassen hatte …
… nun war ein Huschen und Hasten um Kinah herum.
Dirk wollte die linke Hand heben, um sich die Augen zu reiben, aber es gelang ihm nicht. Er war wie gelähmt.
Schattenhafte Bewegungen zogen sich um Kinah zusammen wie Nebel an einem Herbsttag um einen einsamen Spaziergänger, der sich mit den Augen nicht einfangen ließ. Ein Wallen und Fließen, das etwas Stoffliches hatte, so als sei Kinah nicht alleine, sondern umringt von spukhaften Geschöpfen.
»Was …?«, krächzte er. Mehr kam nicht über seine Lippen.
Kinah starrte ihn schweigend an. Dann drehte sie ganz langsam den Kopf und hob den linken Arm. Das Wallen um sie herum machte die Bewegung mit. Es war ein Anblick, der etwas in Dirk zerbrechen ließ. Kinah, seine geliebte Kinah – was war nur mit ihr geschehen?
Kinah hatte inzwischen den Arm ganz gehoben und deutete hinter
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