Sturm: Roman (German Edition)
längst vergangenen Ereignissen verknüpft waren, mit Versatzstücken seiner Vergangenheit, die er bisher einfach nicht richtig gedeutet hatte.
Wie hingezaubert sah er Akuyi vor sich und erinnerte sich an eine Szene, die er am liebsten aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte.
Akuyi saß ihm am Frühstückstisch gegenüber. Ihre Augen waren verweint, die Hand, mit der sie das Glas hielt, zitterte so stark, das sie etwas von dem Orangensaft verschüttete, den er für sie frisch gepresst hatte. Dirk erinnerte sich mit schmerzhafter Deutlichkeit an jedes einzelne Detail jenes Morgens. Er hatte die halbe Nacht durchgesoffen, zum ersten Mal seit dem Abend vor vielen Jahren, an dem er mit seiner Aprilia im Graben gelandet war. Grenzenlose Verzweiflung hatte ihn erfüllt. Er war davon überzeugt gewesen, dass man ihm alles genommen hatte, was das Leben lebenswert machte – ohne zu ahnen, dass es noch viel, viel schlimmer kommen würde.
Er hatte nicht begreifen können, dass Kinah ihn und Akuyi tatsächlich verlassen hatte. Dass sie ihr Konto geplündert hatte und mit ihrem Reisepass, anderen wichtigen Dokumenten und zwei vollgepackten Koffern davongeflogen war. Dass sie keinen Unfall gehabt hatte und irgendwo in einem Krankenhaus lag – oder in einem Straßengräben, wo sie elendig verblutete, wie ihm eine böse Stimme eingeredet hatte …
Für ihn war die Welt zusammengebrochen.
Und jetzt wusste er nicht, wie er seiner Tochter die Wahrheit beibringen sollte.
»Was ist …« Akuyi sah von den Cornflakes auf, die sie minutenlang zu weicher Pappmasse verrührt hatte, ohne einen einzigen Bissen zu sich zu nehmen. »Was ist mit Mama?«
Dirk zuckte zusammen. Mitten in der Nacht, als er sich immer wieder die gleiche Frage gestellt und jedes Mal mit einem Schluck Hochprozentigem nachgespült hatte, hatte er keine Antwort darauf gefunden. Was war mit der Frau, mit der er sein Leben hatte verbringen wollen?
Irgendwann hatte er begriffen, was er da tat. In Selbstmitleid zerfließen. Sich ins Koma saufen, Schluck für Schluck, verzweifelter Gedanke um verzweifelten Gedanken. Und das, obwohl am nächsten Morgen um zwanzig vor sieben Akuyis Wecker klingeln und sie aus ihrem unruhigen Schlaf reißen würde. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es für sie sein würde, ihren Vater volltrunken im Fernsehsessel vorzufinden, eingehüllt in eine Wolke aus Alkoholdunst, umgeben von einer Batterie Flaschen wie von einem Schutzwall gegen die Gefühle, die er nicht zulassen konnte. Sie würde glauben, dass sie nach ihrer Mutter auch noch ihren Vater verloren hatte.
Er musste sich zusammenreißen, und er hatte es getan. Schwankend war er aufgestanden. Die roten Leuchtziffern der Uhr, die Kinah so sehr gehasst hatte, weil sie ihr viel zu technisch war, hatten 03:23 gezeigt. Daran konnte er sich noch genau erinnern. Aber nicht mehr, wie er in die Küche gekommen war, um sich einen extrastarken Kaffee aufzusetzen.
Er hatte den Rest der Nacht keine Sekunde lang geschlafen – aber auch keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken, sondern nur eine Tasse Kaffee nach der anderen, bis ihm dermaßen übel geworden war, dass er mindestens eine Stunde vor der Kloschüssel gehockt und alles herausgewürgt hatte, was er vorher so bedenkenlos in sich hineingeschüttet hatte.
Als Akuyis Wecker klingelte, hatte er seine Sinne wieder halbwegs beieinander. Sein Alkoholpegel war allerdings noch auf einem Level, hei dem er normalerweise herumtorkelt wäre und seine Umgebung kaum bewusst wahrgenommen hätte. Aber das war heute Morgen anders. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, aber der Schmerz war nichts im Vergleich dazu, was er bei dem Gedanken an Kinahs Verschwinden empfand.
»Was ist mit Mama?«, schrie Akuyi und klatschte den Löffel so ungestüm in die Schale, dass Milch und Cornflakes hochspritzten. »Wo ist sie?«
Dirk räusperte sich umständlich. »Kleines …«
»Ich bin nicht dein Kleines!«
»Ja.« Dirk fühlte sich vollkommen hilflos. Er wusste nicht, ob er einfach aufstehen, zu Akuyi gehen und sie in die Arme nehmen sollte. Seine Mutter hatte das in einer emotional angespannten Situation nie getan, genauso wenig, wie sie ihn nach dem Rattenbiss mit den Worten »Es wird alles wieder gut« getröstet hatte. Aber vielleicht gab es ja Situationen, in denen jedes Wort des Trostes falsch war und den Menschen, den man beschützen wollte, nur noch tiefer verletzte.
»Was ja? « Akuyi starrte ihn auf eine Weise an, wie nur
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