Sturm: Roman (German Edition)
es nicht, denn dazu fehlte ihm seine zweite Hand. Er versuchte sich zusammenzureißen, und tatsächlich brachte er den rechten Arm ein Stück weit nach oben – aber zu mehr war er einfach nicht in der Lage.
Die Turbine wurde einen Gang höher geschaltet.
Der gewaltige Windstoß, der Dirk jetzt traf, riss ihn nach oben, sodass seine Finger erneut und diesmal so schmerzhaft überdehnt wurden, dass er um ein Haar den Halt verloren hätte. Er fühlte sich wie eine Maus im Windkanal, wie ein Spielball von Gewalten, denen er nicht im Geringsten gewachsen war.
Da war plötzlich ein Schatten vor ihm, stand vorgebeugt im Gang, halb verborgen von dem Eisenträger. Eine Hand packte seinen Unterarm, umklammerte ihn, zerrte an ihm. »Jetzt!«, schrie eine Männerstimme.
Jetzt was?
Dirk sah nur lange, wirre Haare, kein Gesicht. Dennoch wusste er, wer ihn da zu retten versuchte.
Ausgerechnet der Langhaarige, diese Kiffernase, die ihn bei ihrer letzten Begegnung mit einer Schrotflinte aus dem Haus gejagt hatte.
Aber man konnte sich seine Retter nicht aussuchen. Dirk spannte in einer letzten, verzweifelten Anstrengung die Muskeln an. Der Sturm riss und zerrte an ihm, schlug ihm ins Gesicht, drückte seine Wangen nach hinten …
Jetzt!
Dirk zog sich mit aller Kraft, aber ohne jeden spürbaren Effekt in Richtung Öffnung. Sein selbst ernannter Retter stieß einen grollenden Laut aus und beugte sich weiter vor. Seine Haare umwirbelten ihn wie dünne, in Panik geratene Schlangen, in deren Nest eine Feuersbrunst gefahren war.
Irgendetwas traf Dirks Nase und schrammte über seine Wange, gefolgt von einem Ellbogenstoß, der ihn die Hälfte seiner Zähne gekostet hätte, wäre er nur ein bisschen höher gezielt gewesen.
Dieser Idiot! Dirk brachte jetzt doch die rechte Hand hoch. Seine Finger glitten über kaltes Metall und umklammerten es. Mit beiden Händen riss er sich vorwärts und schaffte es, den rechten Fuß ein Stück vor sich aufzusetzen. Gleichzeitig spürte er, wie sich Finger um seine Schulter krampften und seine Bewegung mit spürbarer Kraft unterstützten.
Was immer der Langhaarige war – schwach war er nicht.
Und trotzdem genügte es nicht. Eine Bö traf Dirk und den vorgebeugten Oberkörper des Langhaarigen. Wie ein Liebespaar, das es etwas zu stürmisch trieb, wankten sie hin und her. Dirk spürte, dass seine Finger den Halt zu verlieren drohten …
… und dann schloss sich etwas einer Schraubzwinge gleich um seine Handgelenke.
Eine massige, dunkle Gestalt füllte die Öffnung. Dirk wurde mit solcher Gewalt nach vorne gezerrt, dass er den Eindruck hatte, seine Arme würden aus den Schultergelenken gerissen. Er verdoppelte seine Anstrengungen und bemerkte, dass auch der Langhaarige wieder Halt fand und ihn mit sich zog.
Doch der Sturm wollte ihn nicht gehen lassen. Die Turbine wurde auf Volllast geschaltet, auf ungesunde Umdrehungszahlen, die von metallischem Kreischen untermalt wurden und früher oder später zu einem Kurzschluss führen mussten. Dirk musste harte Treffer einstecken, und heulende Böen versuchten, ihn von den Füßen und in den Gang zurück zu reißen. Lubayas schwarzer Schatten verschwand vor ihm, als sie sich nach hinten fallen ließ, und er hob ab und wurde über sie geschleudert. Mit der schlechten Kopie einer Judorolle fegte er über sie hinweg. Seine Füße streiften den Metallsturz, mit dem die Öffnung nach oben hin gesichert war, und dann schlug er halb auf Lubaya, halb auf dem Felsboden auf.
Kapitel 15
»Sie sind ein verdammter Idiot!« Der Langhaarige hatte sich eine altmodische Nickelbrille aufgesetzt, über deren Rand hinweg er Dirk eingehend musterte. Er hockte auf einem schiefen, notdürftig zusammengeflickten Stuhl, eingerahmt von wuchtigen, im Laufe der Zeit fleckig und unansehnlich gewordenen Holzregalen, in denen beeindruckend dicke Bücher und zerlesene Kladden standen, die so aussahen, als wären sie kurz nach Erfindung des Buchdrucks durch das verwinkelte Labyrinth geschleppt worden, durch das Lubaya sie mit fast traumwandlerischer Sicherheit geführt hatte. Auf dem wackeligen, wurmstichigen Tisch vor ihm stapelten sich mit überquellenden Aschenbechern beschwerte Computerausdrucke und ein paar alte, abgewetzte Folianten, neben denen ein vollkommen deplatziert wirkendes, ultraflaches Notebook lag. Das Sturmlicht, das über dem Tisch an der Decke hing, ermöglichte Dirk einen uneingeschränkten Blick auf die Verwandlung, die mit dem Langhaarigen vor sich gegangen
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