Sturm ueber Cleybourne Castle
Deshalb durfte sie ihn keinesfalls so sehr reizen, dass er sie über kurz oder lang vor die Tür setzte. So deutete sie denn einen Knicks an und sagte: „Wie Sie wünschen, Euer Gnaden." Überrascht von dieser unerwarteten Kapitulation zog Cleybourne die Augenbrauen hoch. „Dann ist die Sache also erledigt?"
„Soll ich Gabriela jetzt holen, damit Sie sie kennen lernen?"
Ein merkwürdiger Ausdruck, fast wie Furcht, zuckte über das Antlitz des Duke, und er hob abwehrend die Hand. „Nein, nein ... ich ... ich denke, es ist besser, wenn wir uns gar nicht erst begegnen."
„Wie bitte?" Jessica war zu bestürzt, um diesen Ausruf zu unterdrücken. „Sie wollen das Mädchen nicht einmal begrüßen?"
„Es ist besser für Gabriela."
„Was ist besser für sie?" rief Jessica außer sich. Ihre Empörung war so groß, dass sie alle Vernunftgründe vergaß. „Zu wissen, dass Sie sie nicht einmal sehen wollen?
Dass Sie nicht belästigt zu werden wünschen?"
„Nun reicht es aber, Miss Maitland!" Der Duke war sichtlich verärgert. „Vergessen Sie bitte nicht, dass ich ihr Vormund bin, und als solcher habe ich diese Entscheidung getroffen. Sie soll sich gar nicht erst an Cleybourne Castle gewöhnen, denn es wird nicht ihr Heim werden. Auf diese Weise wird es ihr leichter fallen, von hier wieder wegzugehen."
„Sie meinen, es wird für Sie leichter sein", versetzte Jessica immer noch aufgebracht.
Bei diesen Worten zog Cleybourne befremdet die Augenbrauen hoch. Voller Schreck erkannte Jessica, dass sie zu weit gegangen war. Doch zu ihrer größten Überraschung fing der Duke plötzlich lauthals zu lachen an. „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es Ihnen gelungen ist, Gouvernante zu werden, Miss Maitland", sagte er schmunzelnd. „Eine Gouvernante mit diesem Mundwerk!"
Trotzig warf Jessica den Kopf in den Nacken. „General Streathern schätzte ein offenes Wort."
„Aber er wird doch kaum Aufsässigkeit geduldet haben."
Ohne den Blick zu senken, erwiderte Jessica ruhig: „Der General war kein Mann, der von seinem Entscheidungsrecht auf unvernünftige Weise Gebrauch machte."
Eine Zeit lang sah der Duke sie schweigend an. Schließlich entgegnete er in geschäftsmäßigem Ton: „Das wäre dann alles. Ich danke Ihnen."
Am liebsten hätte Jessica einen spöttischen Knicks gemacht, doch sie beherrschte sich und verließ mit einem kurzen Kopfnicken den Raum.
Innerlich jedoch kochte sie vor Zorn. Dieser Mann war offensichtlich völlig gefühlskalt! Hastig durchquerte sie die Halle, ohne nach rechts oder links zu sehen, und ihre Miene war anscheinend so düster, dass eine der Hausmägde, die gerade eine Vitrine abstaubte, erschrocken zur Seite trat.
In dieser Stimmung kann ich keinesfalls zu Gabriela zurückkommen, dachte Jessica. Erst muss ich irgendeine Möglichkeit finden, der Kleinen die Entscheidung des Duke mitzuteilen, ohne ihr wehzutun. Im Augenblick jedoch würde nur die ganze hässliche Wahrheit rückhaltlos aus mir heraussprudeln.
Seufzend entschloss sie sich, zunächst einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, um ihren Zorn abkühlen zu lassen. Sie ging zum Hinterausgang und trat über eine kurze Treppe hinaus in die fahle Wintersonne. Nach wenigen Schritten merkte sie jedoch, dass es zu kalt draußen war, um sich ohne einen Mantel oder einen Umhang im Freien aufzuhalten. Aber ihr Mantel war oben in ihrem Zimmer, wo sie bestimmt auf Gabriela treffen würde. So musste es also auch ohne eine wärmende Hülle gehen, und der Spaziergang würde dementsprechend kürzer ausfallen.
Als Jessica auf halbem Wege zu den Mittelrabatten des Gartens war, vernahm sie plötzlich Schritte hinter sich und blieb stehen, um festzustellen, wer ihr folgte. Eine zierliche Frau, in einen dicken Umhang gehüllt und einen ebensolchen auf dem Arm tragend, kam mit einem freundlichen Lächeln auf die leichtsinnige Spaziergängerin zu.
„Ich dachte, es würde Ihnen zu kalt werden, Miss Maitland", sagte die Fremde, „deshalb habe ich Ihnen etwas zum Überziehen gebracht." Erfreut nahm Jessica ihr den Umhang ab. „Ich danke Ihnen, Miss ..."
„Brown. Mercy Brown. Ich bin die Haushälterin in Cleybourne Castle." Die kleine Frau zwinkerte vergnügt. „Und ich muss gestehen, dass ich Ihnen mehr aus Neugier denn aus Nächstenliebe gefolgt bin. Ich warte schon auf eine Gelegenheit, Sie kennen zu lernen, seit Baxter mir von Ihrer Ankunft mit dem kleinen Mädchen berichtet hat."
Nun musste auch Jessica lächeln.
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