Sturm ueber Cleybourne Castle
jeden Augenblick mit dem Schlimmsten. Es dauerte noch Wochen, bis er wieder auf den Beinen war. Er war in dieser Zeit so mager geworden, dass man ihn kaum wiedererkennen konnte. Um Jahre schien er gealtert. Das können Sie mir glauben." Trotz ihres berechtigten Ärgers über das Verhalten des Duke krampfte sich Jessicas Herz vor Mitleid zusammen. Er musste schrecklich gelitten haben. Allein der Verlust der geliebten Frau war schon schwer genug zu ertragen. Aber dass er auch noch sein vergöttertes Kind hergeben musste - nein, das war mehr, als ein Mensch erdulden konnte.
„Der arme Mann!"
„Ja, ja, das kann man wohl sagen." Miss Brown trocknete ihre Tränen und füllte dann die Teetassen wieder. „Er war danach wie verwandelt, nicht nur in seinem Aussehen, sondern auch in seinem Wesen. Anfangs saß er nur in seinem Stuhl und starrte aus dem Fenster. Alles schien ihm gleichgültig zu sein. Er wollte niemanden sehen. Den Vikar ließ er nicht vor, und den Arzt ertrug er nur widerwillig. Die einzige Person, die jederzeit zu ihm durfte, war Lady Westhampton, die Schwester seiner verstorbenen Frau, und hin und wieder kam auch Lord Ravenscar, ihr Bruder. Wenn er ausging, schlug er immer nur den Weg zum Kirchhof ein. Es war schrecklich ... einfach schrecklich ... Wir alle machten uns große Sorgen um ihn. Eines Tages erklärte er dann, er werde wieder nach London gehen. Wir freuten uns natürlich über diese Nachricht, denn wir glaubten, er hätte seine Trauer überwunden." Sie hielt inne, und aufs Neue glitzerten Tränen in ihren Augen.
„Aber das war nicht der Fall?" fragte Jessica nach einer Weile, als die Haushälterin keine Anstalten machte, fortzufahren.
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. „Er hat seinem Kammerdiener später gesagt, dass er es nicht ertragen könne, noch länger in Cleybourne Castle zu leben. Seit dem Jahre 1248 ist es der Stammsitz der Dukes of Cleybourne, und der Duke selbst hatte sein ganzes Leben hier verbracht. Doch er ist dann fast vier Jahre nicht mehr hierher zurückgekehrt."
„Aber sicherlich hat er in London das Schlimmste überwunden und wieder ein sinnvolleres Leben geführt, selbst wenn er dieses Haus hier nicht mehr sehen wollte?"
„Ach, wenn es nur so gewesen wäre", seufzte die Haushälterin. „Baxter berichtete mir jeden Monat über seine Gnaden, denn ich war mit ein paar der Hausmädchen in Cleybourne geblieben, während die meisten der Dienerschaft dem Duke nach London gefolgt waren. Deshalb erwartete ich natürlich immer ganz begierig die neuesten Nachrichten." Sie lächelte ein wenig. „Wir sind hier nämlich wie eine große Familie, müssen Sie wissen. Deshalb war es selbstverständlich, dass wir uns gegenseitig auf dem Laufenden hielten. Aber der Duke führte in London dasselbe Einsiedlerleben wie hier im Schloss. Von Zeit zu Zeit empfing er Verwandte oder Freunde, wenn sie bei ihm vorsprachen. Er jedoch machte keine Besuche und nahm auch nicht an gesellschaftlichen Ereignissen teil. Selbst in seinen Club ging er nie. Er hatte sich vollständig von der Welt zurückgezogen, und Lady Westhampton, seine Schwägerin, machte sich große Sorgen um ihn. Kürzlich erst hat sie zu Baxter gesagt, dass der Duke ihr noch schwermütiger vorkomme als sonst. Nun ja, die Vorweihnachtszeit ist das Schlimmste für ihn."
„Aber er ist wieder hierher gekommen", warf Jessica ein. „Das ist doch sicherlich ein gutes Zeichen."
„Das hoffen wir. Und wir haben uns auch alle sehr gefreut. Nun ja ... obwohl er so höflich und freundlich wie immer ist, geht von ihm eine Traurigkeit aus, die einem direkt ins Herz schneidet. Deshalb frage ich mich manchmal, welchen Grund er wohl hatte, nach Cleybourne Castle zurückzukehren."
„Was wollen Sie damit sagen?"
Miss Brown legte die Stirn in sorgenvolle Falten. „Ich bin mir nicht ganz sicher, Miss. Aber diese Jahreszeit und alles ... Manchmal denke ich, er ist gekommen, um hier zu sterben."
„Zu sterben?" rief Jessica überrascht. „Aber er ist doch noch ein junger Mann! Ich schätze ihn auf kaum vierzig."
„Er ist fünfunddreißig. Indes ..."
„Sie meinen doch nicht etwa ...", flüsterte Jessica entsetzt. „Denken Sie vielleicht... denken Sie, er will sich etwas antun?"
Bekümmert hob die Haushälterin die Schultern. „Ich weiß nicht. Ich möchte auch nicht daran glauben. Er hat einen starken Charakter. Aber manchmal fürchte ich, dass er völlig verzweifelt ist. Vielleicht hatte er gehofft, fern von London würde sein
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