Sturm ueber Cleybourne Castle
Wahrscheinlich fehlt etwas Schmuck. Vom Schreibtisch wurden alle Schubladen herausgezogen und die Papiere durchwühlt - das Testament und alle mög-liehen geschäftlichen Papiere, was man eben so hat. Porzellandosen und Vasen lagen zerschlagen auf dem Boden. Es muss ein furchtbares Durcheinander gewesen sein - zumindest hat das die Köchin meinem Burschen erzählt, der eine Bestellung hingebracht hat. Der Butler soll fast in Ohnmacht gefallen sein, als er die Bescherung gesehen hat. Und das alles, wo der General noch nicht mal kalt in seinem Grab geworden ist!"
Für einen Moment unterbrach er seinen Redeschwall, seufzte kummervoll auf, um dann salbungsvoll fortzufahren: „Das sind schlimme, ganz schlimme Dinge. Kein Respekt mehr vor dem Tod. Zum Glück war Miss Gabriela nicht mehr im Hause. Es hätte sie sicherlich sehr getroffen, wenn sie das hätte miterleben müssen."
„Nicht mehr im Hause?" wiederholte Vesey entsetzt.
„Nun ja." Erstaunt musterte der Wirt seinen Gast. „Wussten Sie das auch nicht? Die junge Dame und ihre Gouvernante sind gestern gleich nach der Trauerfeier zu ihrem neuen Vormund gefahren. Es soll sich um einen Duke irgendwo in Yorkshire handeln. Ich dachte, das sei Ihnen alles bekannt."
„Das ist es auch", erwiderte Vesey ärgerlich. „Sie haben mich mit Ihrem Gerede nur ganz verrückt gemacht. Ich weiß, dass sie nach Cleybourne Castle gefahren sind." „Genau!" rief der Wirt erfreut. „So heißt der Ort. Na, sehen Sie, so klärt sich alles auf." Unter mehreren Verbeugungen zog er sich zur Tür zurück. „Also, dann lassen Sie es sich schmecken."
„Wie? Was? Ja, natürlich."
„Und ich werde Bescheid sagen, dass die Kutsche geholt werden soll."
„Tun Sie das. Tun Sie das."
Der Wirt schob seine Frau über die Schwelle und verließ den Raum. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank Vesey mit einem ärgerlichen Seufzer in seinen Stuhl zurück. Leona betrachtete ihren Mann mit einem höhnischen Lächeln.
„Damit sind deine ganzen großspurigen Pläne über den Haufen geworfen", stellte sie trocken fest.
„Was, zum Teufel, hat die beiden veranlasst, Hals über Kopf nach Cleybourne Castle zu fahren?"
„Hm, vielleicht haben sie geahnt, was du vorhattest."
„Du redest wieder einmal haarsträubenden Unsinn", erwiderte Lord Vesey, der sich selbst für sehr schlau hielt, gehässig. „Ich habe diesen Plan selbst erst vor ein paar Minuten gefasst. Wie konnten sie also etwas davon wissen?"
Leona zuckte mit den Schultern. „Was sie auch immer dazu bewogen haben mag, du jedenfalls kannst dich nun nicht mehr in den Besitz des Mädchens bringen.
Immerhin können wir nun endlich nach London zurückkehren."
Sie ging zu dem gedeckten Tisch und musterte prüfend die aufgetragenen Speisen, während Lord Vesey nachdenklich auf seiner Unterlippe kaute.
„Vielleicht doch nicht ...", murmelte er nach einer Weile, erhob sich dann und schlenderte mit zufriedener Miene ebenfalls zu dem Tisch hinüber.
„Was soll denn das nun schon wieder?" fragte Leona ärgerlich. „Wir fahren nicht nach London? Ich nehme doch nicht an, dass du trotzdem in das Haus des Generals gehen willst?"
„Natürlich nicht - insbesondere nicht, wenn dort mysteriöse Leute eindringen und irgendwelche Dinge herausholen. Ich dachte eher an eine Reise nach Yorkshire."
„Das kann doch nicht dein Ernst sein!" Ungläubig starrte Leona ihn an. „Yorkshire? Cleybourne Castle? Du glaubst, du könntest dem Duke die Kleine aus den Händen winden?"
„Aus den Händen winden? Nein, natürlich nicht. Das ist Blödsinn. Aber eine höfliche Frage dürfte doch gestattet sein. Ich habe dir bereits erklärt ... Welchen Nutzen sollte das Mädchen für den Duke haben? Vermutlich wäre er froh, wenn er Gabriela wieder loswerden könnte. Und wenn wir auf unserem Heimweg nach London bei ihm vorsprechen würden ... "
„Das ist ein etwas merkwürdiger Heimweg, meinst du nicht auch?"
Ungeduldig winkte Vesey ab. „Ich könnte ihm anbieten, ihn von dieser Last zu befreien. Blutsverwandtschaft und so weiter. Meine Argumente werden ihn gewiss überzeugen."
„Das bezweifle ich ganz entschieden." Leona hielt nicht viel von der Überzeugungskraft ihres Gatten. „Cleybourne hat schon immer zu der ehrenwerten Sorte gehört. Er ist nicht so ein Schuft wie Westhampton. Andererseits ..." Sie machte eine Pause und drehte nachdenklich ihr Taschentuch zwischen den Fingern. „Ich habe gehört, dass er seit dem Tod seiner Frau wie ein
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