Sturm ueber Cleybourne Castle
„Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, ganz gleich aus welchem Grunde. Aber Miss Gabriela ist kein so kleines Mädchen mehr."
„Als ich sie zum letzten Mal sah, war sie fast noch ein Baby. Ein ganz allerliebstes kleines Ding. Und Baxter sagt, sie sei immer noch so reizend."
„Ja, sie ist wirklich sehr hübsch und auch gutherzig."
Bei diesen Worten strahlte die Haushälterin über das ganze Gesicht. „Das freut mich. Das freut mich sehr. Es ist gut, wieder etwas Jugend im Hause zu haben - auch für den Duke."
„Für den Duke? Nun, da irren Sie sich leider. Er hat nämlich vor, sich Gaby so schnell wie möglich wieder vom Halse zu schaffen", erwiderte Jessica ärgerlich.
„Nein!" rief Miss Brown enttäuscht. „Das ist doch gar nicht seine Art."
„Anscheinend doch. Er meint, ein Junggesellenhaushalt sei kein angemessener Ort für ein junges Mädchen. Ich habe den Eindruck, dass er sehr arrogant und reizbar ist. Wie konnte General Streathern nur auf den Gedanken kommen, dass der Duke of Cleybourne der richtige Vormund für Gabriela ist? Offensichtlich hatte er völlig falsche Vorstellungen von dessen Einstellung zu Pflicht und Ehre."
„Oh, das dürfen Sie nicht sagen", widersprach die Haushälterin. „Der Duke ist ein sehr ehrenhafter Mann mit einem ausgeprägten Pflichtgefühl."
„Na ja", entgegnete Jessica zweifelnd, „ich nehme an, solange es ihm keine Ungelegenheiten macht."
Das Lächeln auf Miss Browns Lippen erstarb. „Sie dürfen ihn nicht so hart beurteilen. Der Duke ist wirklich ein guter Mensch. Aber er hat einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen müssen. Das sollten Sie sich vor Augen halten. Die traurigen Ereignisse haben ihn ein bisschen ... ein bisschen eigenbrötlerisch gemacht. Aber es ist auch nicht ein einziges schlechtes Haar an ihm."
„Wie würden Sie es dann nennen, wenn er es ablehnt, sich um eine Waise zu kümmern, deren letzter Angehöriger gerade verstorben ist und deren Vater - sein enger Freund - ihn als Vormund für seine Tochter ausersehen hatte? Mister Carstairs und General Streathern haben darauf vertraut, dass er die Sorge für Gabriela übernehmen würde. Aber das ist ihm offensichtlich zu lästig. Und deshalb will er das Mädchen an irgendjemanden weitergeben, der sich dazu bereit findet."
Die Haushälterin schüttelte den Kopf und blickte traurig vor sich hin. „Der arme Mann", murmelte sie. „Das ist sicher wegen Alana. Er kann es wahrscheinlich nicht ertragen, wieder ein Kind im Hause zu haben." Für eine Weile fiel zwischen den beiden Frauen kein Wort mehr. Dann sagte Miss Brown plötzlich: „Kommen Sie doch auf einen Sprung in mein Wohnzimmer, um sich bei einer Tasse Tee aufzuwärmen. Ich erzähle Ihnen dann alles über Seine Gnaden und warum er so geworden ist, wie er Ihnen heute erscheint."
Dieser Vorschlag kam Jessica sehr gelegen, sodass sie rasch einwilligte, teils aus Neugier, teils wegen der Kälte. Die beiden Frauen wandten sich um und gingen gemeinsam zum Haus zurück. Miss Brown führte Jessica zum hinteren Eingangsflur, wo sie die beiden Umhänge sorgfältig auf einen Haken hängte, und dann durch die Küche in ein gemütliches kleines Wohnzimmer, das Reich der Haushälterin. Im Vorübergehen hinterließ sie beim Küchenpersonal einige Aufträge, und schon wenige Augenblicke später erschien eines der Mädchen mit frisch gebrühtem Tee und einer Schale Gebäck.
Der Tee wärmte Jessica sofort wieder auf, und die Schokoladentörtchen waren vorzüglich. Der kleine braune Kachelofen strahlte Gemütlichkeit aus, ebenso wie die vielen zierlichen Häkeldeckchen auf den glänzend polierten Möbelstücken. Jessica lehnte sich bequem in ihren Armstuhl zurück und lauschte den Erzählungen von Miss Brown.
„Ich kenne Seine Gnaden schon seit seiner Kinderzeit, ebenso wie Baxter und einige ältere Dienstboten", begann die Haushälterin. „Er war ein sehr liebenswerter Junge. Und als er dann erwachsen war - nun, Sie müssten wahrscheinlich sehr lange suchen, wenn Sie einen freundlicheren und verständnisvolleren Dienstherm finden wollten. Vor etwa zehn Jahren heiratete er Caroline Aincourt, die Tochter des Earl of Ravenscar. Es war eine ausgezeichnete Verbindung - eine alte Familie, ein guter Name. Aber nicht nur das. Der Duke war ganz verrückt vor Liebe."
Miss Brown seufzte leise, und ihr Blick verlor sich in der Vergangenheit. „Oh, sie war aber auch eine Schönheit - jeder Zoll eine Duchess, wirklich. Groß und imponierend, mit
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