Sturm ueber Cleybourne Castle
sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe. Möchten Sie damit andeuten, dass Sie uns wieder fortschicken wollen? Haben Sie etwa die Absicht, Gabriela in Veseys Obhut zu geben?"
Trotz der mit Bedacht gewählten Worte überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf, und sie überlegte hastig, wie sie wohl mit ihrem Schützling fliehen konnte, bevor diese schreckliche Möglichkeit vielleicht in die Tat umgesetzt werden würde. Aber wohin sollte sie gehen? Wie könnte sie das Mädchen vor Vesey schützen?
Eine ärgerliche Röte huschte über Cleybournes Gesicht, und seine Mundwinkel zuckten. „Um Himmels willen, nein! Ich gedenke keinesfalls, Miss Carstairs diesem zweifelhaften Lebemann zu überlassen. Wie können Sie so etwas überhaupt in Betracht ziehen?" „Warum sollte ich nicht?" erwiderte Jessica aufgeregt. „Ich kenne Sie nicht und weiß nur, dass Sie es ablehnen, die Vormundschaft zu übernehmen."
„Nun, das ist nicht ganz richtig. Vielmehr ... ja, also, meine Lebensumstände waren gänzlich andere, als Gabrielas Vater diese Festlegung in seinem Testament getroffen hat. Meine Frau war noch am Leben und meine ..." Der Duke schob seinen Stuhl mit einem scharrenden Geräusch zurück, bevor er unvermittelt aufstand. „Ich führe jetzt einen Junggesellenhaushalt, Miss Maitland", fuhr er fort, während er nervös hin und her lief. „Er dürfte kaum der geeignete Ort für ein junges Mädchen sein. Gabriela braucht die leitende Hand einer Frau, die ihre Einführung in die Gesellschaft vorbereiten kann und ihr alles vermittelt, was ein Mädchen auf der Schwelle zur erwachsenen Frau wissen muss. Ich jedoch wäre unfähig, solche Aufgaben zu bewältigen."
„Aber sie hat doch noch mich, Euer Gnaden." Nun erhob Jessica sich ebenfalls. „Ich mag zwar nur eine einfache Gouvernante sein, bin aber immerhin in die Londoner Gesellschaft eingeführt worden. Und ich bin so erzogen worden, wie auch Gabriela erzogen werden sollte. Wenn dann die Zeit ihres Eintritts in die Welt gekommen ist, wird doch sicher eine weibliche Verwandte von Ihnen zur Verfügung stehen - eine Schwester oder eine Cousine - die das Mädchen sicher durch die Klippen des Londoner Gesellschaftslebens führt."
„Das wäre doch nur ein Notbehelf, Miss Maitland", entgegnete Cleybourne schroff und schüttelte abweisend den Kopf. „Ich bezweifle nicht, dass Sie eine ausgezeichnete Lehrerin sind. Aber Gabriela braucht mehr. Sie muss ein enges Vertrauensverhältnis zu einer etwas älteren Frau haben - einer Frau mit Erfahrungen auf dem gesellschaftlichen Parkett. Weder ich noch Sie können diese Aufgabe erfüllen."
„Im Augenblick braucht Gabriela vor allem Trost und Kraft. Das ist wichtiger als die Vorbereitung auf ihre Einführung in die Gesellschaft, die noch vier Jahre Zeit hat. Sie braucht eine Heimat, einen Ort, wo sie hingehört und wo sie gern gesehen ist. Vor sechs Jahren hat sie ihre Eltern verloren und nun auch den Menschen, der sie wie ein Großvater geliebt hat. Das heißt also, dass sie keine Familie mehr hat, weil ich Lord Vesey nicht als ihre Familie ansehen möchte."
„Natürlich nicht. Doch ich bin auch nicht Gabrielas Familie."
„Sie waren aber der Freund ihres Vaters. Sie sind der Mann, den sich ihr Vater als ihren Vormund gewünscht hat. Aus diesem Grund hat sie ihr ganzes Vertrauen in Sie gesetzt. Und auch General Streathern hat gewollt, dass Sie die Vormundschaft übernehmen. Er war voller Zuversicht, was Ihre Haltung in dieser Frage betrifft. Haben Sie denn seinen Brief nicht gelesen? Er hat gefürchtet, dass Lord Vesey versuchen würde ... "
„Ich will das Mädchen nicht Vesey überlassen", unterbrach Cleybourne sie unwillig. „Warum, zum Teufel, kommen Sie immer wieder darauf zurück! Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich einen passenderen Ort für Gabriela finden werde - vielleicht bei meiner Schwägerin. Noch heute werde ich Rachel schreiben und sie fragen, ob sie und ihr Mann die Kleine aufnehmen wollen. Selbstverständlich werden Sie hier bleiben, bis diese Angelegenheit geklärt ist. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht mit mir spaßen lasse, wenn Vesey die Stirn haben sollte, sich hier einzumischen."
Jessica wollte noch etwas erwidern, aber sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte ihren Ärger. Fürs Erste durfte sie mit Gabriela in Cleybourne Castle bleiben, und das war im Augenblick das Wichtigste. Auf diese Weise konnte sie vielleicht noch Einfluss nehmen, wenn der Duke einen anderen Vormund suchte.
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