Sturm ueber Cleybourne Castle
eine oder zwei Stunden geschlafen haben, als sie mit klopfendem Herzen erwachte. Irgendetwas musste sie geweckt haben. Vielleicht das Geräusch der Türklinke? Da sie sehr lebhaft geträumt hatte, konnte sie nicht mehr sagen, was Wirklichkeit und was Traum gewesen war.
Vorsichtig stand sie auf, schlüpfte in die Pantoffeln aus schwarzem Samt und zog den Morgenmantel über. Dann schlich sie zur Tür und legte lauschend das Ohr daran. Es war nichts zu hören. Leise öffnete sie einen Spalt breit und spähte hinaus. Der Korridor lag einsam und dunkel vor ihr, nur spärlich erleuchtet von dem Mondlicht, das durch die hohen Fenster an seinem Ende fiel.
Unschlüssig blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen, als plötzlich eine dunkle Gestalt auf dem oberen Treppenabsatz erschien und lautlos die Stufen hinabstieg. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Wer stahl sich hier des Nachts heimlich durchs Haus? Ihr erster Gedanke galt dem unbekannten Eindringling, den sie neulich im Kinderzimmer überrascht hatte. War es doch Vesey? Aber was sollte Lord Vesey für einen Anlass haben, um diese Zeit im Schloss herumzuschleichen?
Auf jeden Fall musste sie dem Fremden folgen, wenn er auch in dem fahlen Mondlicht nur schwer zu erkennen war. Sie verzichtete darauf, eine Kerze anzuzünden, denn dadurch hätte sie nur seine Aufmerksamkeit erregt. Den schweren eisernen Leuchter nahm sie aber dennoch mit, denn notfalls taugte er als Waffe. Sie entfernte die Kerze, steckte sie in die Tasche ihres Morgenmantels, packte den Hals des Leuchters und trat in den Flur.
So schnell wie es die Dunkelheit erlaubte, lief sie zur Treppe, hielt sich vorsichtig am Geländer fest und hastete die Stufen hinab. Auf halbem Wege hörte sie irgendwo unter ihr in der Halle einen dumpfen Stoß, gefolgt von einem unterdrückten, gotteslästerlichen Fluch. Erschrocken blieb sie stehen, setzte dann aber ihren Weg lautlos fort.
Als sie am Fuß der Treppe angekommen war, sah sie sich um. Die Halle war beinahe noch dunkler als der Korridor, und es war nicht leicht, die Richtung ausfindig zu machen, in welcher der Unbekannte verschwunden war. Vorsichtig tastete Jessica sich voran bis zu dem Gang, in dem Cleybournes Arbeitszimmer lag. Hier war es so dunkel wie in einer Höhle, denn es gab keine Fenster, und die Umrisse eines Schrankes oder einer Bank an der Wand waren erst zu sehen, wenn man direkt davor stand. Während Jessica angestrengt darauf achtete, nirgends anzustoßen, ertönte plötzlich vor ihr ein Schrei und dann ein Krachen.
Eine Sekunde später stürzte eine dunkle Gestalt aus einer der Türen vor ihr und kam auf sie zugerannt. Angstvoll presste sie sich an die kalte Wand, konnte aber dennoch nicht verhindern, dass sie einen Schlag gegen die Schulter erhielt und sich an einem Möbelstück festklammern musste, um nicht zu fallen.
Unmittelbar danach verließ ein zweiter Mann den Raum und eilte an Jessica vorüber. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass es der Duke war. Dabei fiel ihr auf, dass sie die Gesichtszüge des Ersten ebenso wenig hatte erfassen können wie bei dem Eindringling im Kinderzimmer. Immer war es nur ein dunkler Schatten gewesen.
Kurz entschlossen folgte sie den beiden. Der erste Mann hatte bereits die Eingangstür erreicht und riss sie auf. Cleybourne war ihm dicht auf den Fersen, und nur einen Augenblick später verschwanden die Männer im Dunkel der Nacht. Ungeachtet ihrer dünnen Pantoffeln und der dürftigen Bekleidung eilte Jessica ihnen nach.
Der Fremde hatte einen kleinen Vorsprung, aber Cleybourne kam ihm trotzdem immer näher. An einer Hausecke rutschte der Eindringling auf dem verharschten Schnee aus, kam jedoch schnell wieder auf die Beine und rannte weiter. Kurz vor dem Eingang zum Garten wurde er schließlich von dem Duke eingeholt.
Cleybourne warf sich mit einem Sprung auf ihn, und die beiden Männer rollten zusammen durch den Schnee. Keuchend rangen sie miteinander, schlugen und traten aufeinander ein, ohne dass es einem von ihnen gelang, die Oberhand zu gewinnen. Schließlich rappelten sie sich gemeinsam wieder hoch.
Inzwischen war auch Jessica bei ihnen. Sie packte den Leuchter fester und wartete auf eine Gelegenheit, zu Gunsten des Duke in den Kampf einzugreifen. Doch in der nächtlichen Finsternis waren die beiden dunkel gekleideten und ineinander verkeilten Männer nur schwer voneinander zu unterscheiden. Ängstlich umrundete sie die beiden Streiter, konnte aber Cleybournes Gesicht
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