Sturm ueber Cleybourne Castle
Was glaubte er dort zu finden?" „Nun, vielleicht... vielleicht die Papiere, die belegen können, dass Sie zum Vormund eingesetzt worden sind."
„Aber dann wäre ja immer noch das Testament im Original vorhanden, das bereits verlesen und beim Notar hintergelegt worden ist."
„Ja, das stimmt. Was sollten ihm dann diese Papiere für Nutzen bringen? Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er den Mut haben könnte, in ein fremdes Zimmer einzudringen - gar nicht zu reden von Ihrem Arbeitszimmer. Es ist doch bekannt, dass er ein großer Feigling ist."
„Beim weiteren Nachdenken kommt es mir auch unwahrscheinlich vor, zumal ich ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben habe, was ihm bei irgendwelchen üblen Machenschaften drohen würde. Nach einer solchen Warnung hätte er bestimmt nicht die Stirn gehabt, meine Pläne zu durchkreuzen. Er ist zwar ein Dummkopf, hat aber nichtsdestoweniger einen stark ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb."
„Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber vielleicht war es eine Verzweiflungstat? Der General sagte mir einmal, dass er seinem Großneffen alles zutrauen würde. Und er hat mir auch berichtet, dass Vesey finanziell vor dem Ruin steht. Er soll immense Schulden haben."
„Das habe ich auch schon gehört. Seine Gläubiger sind ihm an sich gleichgültig. Aber er ist ein passionierter Spieler und daher gezwungen, zumindest seine Spielschulden zu begleichen, wenn er nicht vom Spieltisch verbannt werden will. Sein Lebensstil ist sehr kostspielig, und seine Frau ist genauso verschwenderisch wie er. Als sie im Sommer ihren Liebhaber Devin Aincourt losgeworden ist, ging ihr auch eine unerschöpfliche Quelle von Zuwendungen in Form von Kleidern und Schmuck verloren."
„Ich fürchte, dass wir heute Abend zu keinem Ergebnis mehr kommen werden", sagte Jessica zögernd und musterte Cleybournes Stirn. „Ich sollte jetzt lieber Ihre Wunde versorgen."
„Sind Sie etwa in Medizin bewandert?" erkundigte sich der Duke schmunzelnd.
„Das nicht. Aber ich habe in meinem Leben schon eine ganze Reihe von Beulen und Schrammen behandeln müssen. Schließlich bin ich Gouvernante und die Tochter eines Soldaten."
„Nun gut, dann werde ich mich Ihren kundigen Händen ausliefern", erwiderte Cleybourne lächelnd. „Baxter hat bereits Verbandsmaterial besorgt, auch Salbe und was sonst noch gebraucht wird. Es ist oben in meinem Zimmer."
Er löschte die Lampe, und die beiden durchquerten die Halle und begaben sich in das Obergeschoss. Als Cleybourne die Tür zu seinem Zimmer öffnete, zögerte Jessica einen Augenblick, denn sie hatte noch nie das Schlafzimmer eines Mannes betreten - mit Ausnahme von dem ihres Vaters und des Generals. Es schien ihr ein zu intimer Ort zu sein, um darin mit dem Bewohner allein zu bleiben.
Offensichtlich hatte der Duke ihre Unsicherheit nicht bemerkt. Er zündete die Kerzen im Wandleuchter neben dem Toilettenspiegel an und betrachtete dann prüfend das Tablett mit den Verbandsutensilien, das Baxter auf den Nachttisch gestellt hatte. Anscheinend hat er keine Bedenken wegen unseres nächtlichen Beisammenseins, dachte Jessica. Es ist ja auch nichts dabei, wenn ich hier seine Wunde verbinde. Ich sollte wirklich nicht so töricht sein. Entschlossen straffte sie die Schultern und trat über die Schwelle.
Mit einem raschen Blick stellte sie fest, dass Baxter tatsächlich an alles gedacht hatte. Sie schob einen Stuhl neben den Spiegel und bat den Duke, dort Platz zu nehmen. Dann feuchtete sie ein Tuch in der Waschschüssel an und begann, sein Gesicht von dem verkrusteten Blut zu befreien.
Es erregte sie, so nahe bei ihm zu stehen, weshalb sie sich bemühte, ihre ganze Aufmerksamkeit auf seine Stirn und seine Wange zu konzentrieren und ihm um alles in der Welt nicht in die Augen zu sehen. Doch sie spürte, dass er sie beobachtete. Als ihre Fingerspitzen seine rauen Bartstoppeln berührten, lief ein leichtes Zittern über ihren Arm.
Rasch biss sie die Zähne zusammen und suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Gesprächsstoff. Das Beste war wohl, wieder über den mysteriösen Eindringling zu spekulieren.
„Wenn es nun nicht Vesey gewesen ist", schnitt sie das Thema an, „warum sollte dann irgendein anderer in Ihr Arbeitszimmer eindringen?"
„Um etwas zu stehlen, vermute ich. Das wäre noch die überzeugendste Erklärung." „Aber er hätte doch damit nicht weglaufen können", widersprach Jessica. „Dazu ist der Schnee zu tief. Er wäre schnell eingefangen worden."
„Ja,
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