Sturm ueber Cleybourne Castle
für ein Feuer war in ihr gewesen! Die Erinnerung daran brachte sein Blut wieder in Wallung. Sie war so natürlich gewesen, so ungezähmt, so ahnungslos verführerisch ... Immer wieder drängte sich ihm die Vorstellung davon auf, wie es wohl gewesen wäre, wenn er seinem Verlangen nachgegeben hätte ...
Aber das durfte nicht sein. Sie war eine unschuldige junge Frau, die unter seinem Schutz stand. Es war seine Pflicht, sie zu behüten. Er durfte sie nicht in sein Bett holen, um sie zu verführen. Sie war weder von der Art Leonas, die man nehmen und dann vergessen konnte, noch gehörte sie zu den Frauen, die man bedenkenlos zu seiner Geliebten machen konnte und damit der Verachtung durch die Gesellschaft preisgab. Selbst wenn er sie aufs Beste mit allem versorgen würde, wäre es ihr unmöglich, ein Leben zu führen, das in ihren Augen eine Entehrung war. Nein, Jessica verdiente einen liebenden und treuen Ehemann - sie musste heiraten und Kinder bekommen, so wie es sich jede Frau wünschte.
Das alles konnte er ihr aber nicht geben, weil er nicht mehr imstande war, aufrichtig zu lieben. Caroline war nicht zu ersetzen, und eine Frau zu nehmen, die ihm weniger als sie bedeutete, wäre der Verstorbenen gegenüber ein Frevel. Er fühlte sich schon schuldig genug, weil er Jessica begehrte. Aber sie heiraten - nein, das wäre unmöglich.
Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um sich in die Kontobücher zu vertiefen, die ihm sein Verwalter vorgelegt hatte. Dies gelang ihm nicht so, wie er es sich gewünscht hatte, aber es gab ihm wenigstens eine Entschuldigung für sein Fernbleiben von den Gästen. Allerdings verging dabei kaum eine Stunde, in der er sich nicht fragte, was wohl Miss Maitland jetzt gerade tun mochte.
Inzwischen bemühte sich Jessica, die mehr oder weniger gelangweilten Gäste zu unterhalten. Eigentlich hätte Rachel als Schwägerin des Hausherrn diese Pflicht übernehmen müssen, aber ihre Erkältung hatte sich über Nacht weiter verschlimmert. Sie hatte Fieber und fühlte sich sehr elend, sodass Jessica immer wieder nach ihr schaute.
Miss Brown hatte ein Spezialmittel für die Kranke zubereitet, und Jessica achtete streng darauf, dass es regelmäßig eingenommen wurde. Zum Glück war Gabriela Rachel sehr zugetan. Stundenlang saß sie an ihrem Bett, unterhielt sich mit ihr oder las ihr vor, bis sie wieder einmal der Ruhe bedurfte. Dann kam Gaby zu Jessica und beklagte sich bei ihr darüber, dass sie Langeweile habe und die Zeit überhaupt nicht vergehen wolle.
Leona machte sich ein Vergnügen daraus, die arme Miss Pargety ständig durch ihr anstößiges Verhalten zu entrüsten. Mrs. Woods konnte sie damit allerdings nicht einmal ein Kopf schütteln entlocken. Lord Vesey versuchte vergebens, die anderen Männer zu einem Spiel zu überreden. Immerhin gelang es ihm, sie für das reichhaltige Angebot an hochprozentigen Getränken im Speisezimmer zu interessieren, wovon er selbst natürlich den meisten Gebrauch machte. Jessica beobachtete diesen Vorgang voller Missbilligung, denn sie hatte durch ihr Leben in der Nähe von Truppenunterkünften zu viele Streitigkeiten zwischen betrunkenen Männern erlebt. Verärgert sagte sie sich, es sei nun wahrhaftig an der Zeit, dass der Duke aus seinem Versteck hervorkroch und sich wenigstens um den männlichen Teil der Gäste kümmerte.
Doch er tat ihr diesen Gefallen nicht, und sie wusste ja auch, dass er nicht kommen würde, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, die nächtliche Episode zu bedauern. Als ihr bewusst geworden war, was sie getan hatte, bestand für sie kein Zweifel mehr, dass er sich von ihr abwenden würde. Er war viel zu entsetzt gewesen über ihr schamloses Benehmen, das seine wunderbare Frau bestimmt nie an den Tag gelegt hätte. Wenn Jessica an dem Porträt der Duchess vorüberging, warf sie ihr jedes Mal einen boshaften Blick zu. Mit dieser Schönheit konnte es keine andere Frau auf der Welt aufnehmen, und sie war sicherlich weder offenherzig noch temperamentvoll, noch auf so empörende Weise sinnlich gewesen.
Viel zu oft wünschte sich Jessica im Laufe des Tages, diese Eigenschaften nicht zu besitzen oder wenigstens nicht immer wieder an Cleybournes Küsse und Zärtlichkeiten denken zu müssen. Die Erinnerung an den Sinnentaumel, der sie erfasst hatte, als sie seine Hände auf ihren Brüsten spürte, quälte sie unaufhörlich. Sie wusste, dass er sie begehrt hatte, aber zugleich war sie fest davon überzeugt, dass er es nie zugeben und
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