Sturm ueber Cleybourne Castle
auch nie eine solche Annäherung wiederholen würde. Schließlich hatte er ihr ja deutlich genug gesagt, wie entsetzt er über seine Gefühle ihr gegenüber war. Er wollte sie ja in Wirklichkeit gar nicht, und es war unsagbar töricht von ihr, sich nach ihm zu verzehren. Die Liebe zu seiner verstorbenen Frau war immer noch zu groß, um sich einer anderen zuzuwenden. Und wenn er sich eines Tages vielleicht doch dazu entschließen könnte, dann würde er bestimmt keine Gemahlin auswählen, die gesellschaftlich so weit unter ihm stand wie sie und noch dazu mit einem Familienskandal belastet war. Alles, was er für sie empfand, war körperliche Begierde, und es war unsinnig, mit dem Gedanken zu spielen, das könne ihr genügen. Es würde ihr niemals genügen! Sie sehnte sich zwar leidenschaftlich nach ihm und seiner Nähe, aber nicht ohne tiefere Gefühle. Sie begehrte ihn, begehrte ihn auf jede Weise.
War das Liebe? Jessica war sich nicht sicher. Es erschien ihr abwegig, dass sie einen Mann lieben sollte, den sie erst so kurze Zeit kannte und mit dem sie zudem ständig im Streit lag. Unwillkürlich musste sie bei der Erinnerung daran lächeln. Es war immer auch etwas Anziehendes und ungemein Belebendes an ihren Auseinandersetzungen gewesen.
Nachdenklich lehnte sie sich an eines der Fenster und blickte hinaus in die schneebedeckte Landschaft. Doch im Geist sah sie Cleybourne mit blitzenden Augen und geröteten Wangen bei einem ihrer Wortwechsel. Dabei fiel ihr ein, welches Feuer in der vergangenen Nacht in seinen Augen gebrannt hatte, und ihre Brüste wurden merkwürdig schwer dabei. Sie schloss die Augen und fragte sich zum wiederholten Male, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie das ganze Ausmaß seiner Leidenschaft zu spüren bekommen hätte, und ein feines, schmerzhaftes Klopfen zwischen ihren Schenkeln gab Antwort darauf.
Seufzend öffnete sie die Augen und trat vom Fenster weg. Ihre eigene Schwäche und Cleybournes Macht über sie beunruhigten sie. Fest entschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, durchschritt sie die Halle und betrat das Wohnzimmer, wo sie Leona höchst vergnügt vorfand, Mrs. Woods hingegen gelangweilt und Miss Pargety in heller Erregung - ob aus Ärger oder aus Verlegenheit, war auf den ersten Blick nicht festzustellen.
Auch Reverend Radfield war anwesend. Er saß ein wenig abseits in einem Lehnstuhl und betrachtete mit ausdrucksloser Miene seine Hände. Als Jessica ins Zimmer kam, begrüßte er sie mit einem überaus liebenswürdigen Lächeln. „Ah, Miss Maitland, wie nett, dass Sie uns Gesellschaft leisten. Wir sprachen gerade darüber, wie nahe doch Weihnachten ist und wie wenig wir sicher sein können, dass wir bis dahin unseren Bestimmungsort erreichen werden. Ich persönlich würde es außerordentlich bedauern, wenn ich das erste Christfest in meiner neuen Gemeinde versäumen würde."
Seine Stimme war weich und geschult, und als Jessica ihm einen Blick zuwarf, schien eine Spur von Humor in seinen Augen zu schimmern. Offensichtlich konnte er auch flunkern, denn weder Leona noch Miss Pargety machten den Eindruck, als hätten sie sich nur über das bevorstehende Weihnachtsfest unterhalten. Nun ja, ein Seelenhirte muss wohl in gewisser Weise auch ein Diplomat sein, sagte sie sich.
Denn es gab in einer Kirchengemeinde zweifellos auch Menschen, die sich ebenso wenig leiden konnten wie Miss Pargety und Lady Vesey.
„Ja, es wäre in der Tat sehr bedauerlich, wenn keiner von Ihnen bis zum Fest an sein Ziel gelangen würde", bestätigte Jessica höflich. „Aber da fällt mir ein, dass noch gar nicht mit der Ausschmückung der Räume begonnen wurde. Ich muss sofort mit Baxter sprechen. Wenn Sie mich also entschuldigen würden ... "
Sie fand den Butler im Speisesaal, wo er die Anordnung der silbernen Bestecke durch die Lakaien kontrollierte.
„Baxter!"
„Ja, Miss Maitland?" Der alte Mann nickte ihr freundlich zu. Wenn er auch anfangs über ihre direkte Art irritiert gewesen war, so hielt er jetzt doch große Stücke auf die Gouvernante, insbesondere seit den letzten Tagen mit ihren ständigen Problemen wegen der vielen uneingeladenen Gäste.
„Mir ist aufgefallen, dass noch kein Weihnachtsschmuck im Haus angebracht worden ist."
Auf Baxters Gesicht erstarb das Lächeln. „Das ist richtig, Miss."
„Ich möchte der Dienerschaft ja nicht unbedingt noch mehr Lasten aufbürden, aber vielleicht würden weihnachtlich geschmückte Räume die allgemeine Stimmung etwas heben. Sie könnten
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