Sturm über Sylt
wieder. Der Himmel war wolkenverhangen, kein Stern zu sehen. Nur eine einzige Laterne auf der Plattform gab noch etwas Licht, diejenige, die dem »Miramar« am nächsten stand. Seinen Gästen kam die Kurverwaltung entgegen, sie sollten gefahrlos die Schritte bis zum Strand zurücklegen können. Auch bei Dunkelheit!
Aletta weinte. Sie hatte sich in den Schutz ihres Seidenschals geflüchtet, der sie wärmte, hatte die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, hielt die Augen geschlossen, schluchzte und ließ die Tränen laufen, ohne sie abzuwischen. Ludwig ging hinter ihr auf und ab. Er hatte oft genug versucht, sie zu trösten, sie in seine Arme zu locken. Nun gab er auf. Er sah ein, dass sie sich ihre Enttäuschung nicht nehmen lassen, dass sie an ihrem Schmerz festhalten wollte. Beides war in diesem Augenblick so wertvoll, wie ihr Glück gewesen wäre.
Sie war zu mehreren Zugaben bereit gewesen, die letzten beiden sang sie, wie sie es immer tat, bei voller Beleuchtung des Zuschauerraums, um sich eins zu machen mit dem Publikum, um ihre exponierte Stellung als Star auf der Bühne vergessen zu lassen. In diesem Fall war es ihr besonders wichtig gewesen. Reihe für Reihe hatte sie mit den Augen abgetastet, Gesicht für Gesicht. Und dann noch einmal zum Schluss »Guten Abend, gut’ Nacht ...«, während sie an die Rampe getreten war und den Ordnern ein Zeichen gegeben hatte, dass sie es zulassen durften, die Zuhörer bis an den Rand der Bühne kommen zu lassen. Nur die beiden Aufgänge wurden weiterhin bewacht, damit niemand es so weit trieb, die Bühne zu betreten. Unzählige vertraute Gesichter hatte sie gesehen, aber keines der drei, auf denen sie Stolz und Liebe, Anerkennung, Lob und Einsicht hatte erkennen wollen.
Erst als sie sich ein letztes Mal verbeugt hatte und von derBühne abgetreten war, konnte sie es wirklich glauben: »Sie sind nicht gekommen.«
Ludwig hatte sie in ihre Garderobe geführt und die Tür hinter ihr geschlossen, nachdem er die Ordner instruiert hatte, niemanden vorzulassen. Auch die Friseurin wurde weggeschickt, die eigentlich die kunstvollen Haarknoten lösen sollte, ebenso Ella, die darauf gewartet hatte, sie abzuschminken und ihr beim Umziehen zu helfen. Aletta wollte niemanden sehen. Sie blieb zusammengekauert vor dem Spiegel sitzen, Ludwig neben ihr, Alettas linke Hand in seiner, und gemeinsam lauschten sie auf die Stimmen, das Gelächter, die Schritte vor dem Kurhaus, die allmählich verklangen, auf die Stille, die herankroch, bis es nur noch ein paar Geräusche innerhalb des Hauses gab.
Schließlich sagte Ludwig: »Es wird Zeit.«
Er verließ die Garderobe, sie hörte ihn auf dem Gang mit jemandem sprechen. Kurz darauf kehrte er zurück. »Da ist noch jemand, der sich nicht abweisen lässt. Er glaubt, dass du ihn empfangen wirst.«
Aletta hob den Kopf. »Wer ist es?«
»Ein gewisser ... Jorit Lauritzen. Kennst du ihn?«
Aletta nickte. »Ein Jugendfreund. Ja, bitte ihn herein.«
Bis Jorit eintrat, hatte sie die Tränenspuren auf ihrem Gesicht beseitigt, ihre Frisur gerichtet, ihr Kleid geglättet. Als sie Jorit im Zuschauerraum entdeckt hatte, war er ihr unverändert erschienen, nun, als er den kleinen Raum betrat, sah sie, dass er älter geworden war, reifer, stärker und sicherer. Sein rundes Gesicht war markanter geworden, der Ausdruck eindringlicher. In seinen Augen brannte kein Feuer mehr, aber sein Blick war noch immer nachdrücklich, enthielt viel von dem, was gewesen war, darüber hinaus jedoch etwas, was aus einem anderen Schatz an Erfahrungen geschöpft worden war. Ein kluger, aufgeschlossener, erfahrener Mann, den das Leben zu dem gemacht hatte, was er war, nicht seine Herkunft oder ein Privileg. Er trug einen eleganten dunkelgrauen Einreiher, darunter eine gestreifte Weste undein makelloses weißes Hemd mit hohem Kragen, unter dem ein dunkles Tuch hervorsah, das mit einer dicken Perle befestigt worden war.
Obwohl er augenscheinlich nicht wusste, wie er mit der ungewohnten Situation umgehen sollte, ließ er Aletta doch keine Unsicherheit spüren. Nachdem er sie höflich begrüßt und sich mit Ludwig bekannt gemacht hatte, kam er ohne Umschweife auf den Grund seines Besuchs zu sprechen: »Mir ist klar, dass du erschöpft bist nach diesem wunderbaren Konzert. Ich habe kein Anrecht auf ein Gespräch, nicht zu dieser Stunde. Es ist nur ... ich möchte dir sagen, dass du alles richtig gemacht hast. Du hattest vor zehn Jahren alles Recht der Welt, dich so zu verhalten, wie
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