Sturm über Sylt
entschieden hatte, das ihre Koffer zu bieten hatten, sah die junge Frau, die vor zehn Jahren noch ein Mädchengewesen war, und den Erfolg in ihrem Gesicht, weil ein solcher Erfolg jedes Gesicht veränderte, mit jedem Triumph ein bisschen mehr.
»Wie bist du reingekommen?«, fragte sie schließlich.
»Hätte ich klopfen sollen«, fragte Aletta zurück, »und warten, dass du mir aufmachst?«
Insa schob sich an Aletta vorbei zum Spülstein. Mit fahrigen Bewegungen ordnete sie das schmutzige Geschirr.
»Dies ist mein Elternhaus«, protestierte Aletta.
»Das fällt dir spät ein«, gab Insa zurück.
Sie stapelte die Teller von rechts nach links, dann nahm sie den summenden Kessel vom Herd, verschloss den Spülstein mit einem Stöpsel, goss das heiße Wasser hinein und begann zu spülen.
Aletta betrachtete sie eine Weile, während Insa versuchte, ihren prüfenden Blick nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Das Konzert gestern habe ich für meine Familie gegeben«, sagte Aletta schließlich. »Nur für euch wollte ich singen.«
Insa stieß ein bitteres Lachen aus. »Die Familie, die du vor zehn Jahren verlassen hast, gibt es nicht mehr.«
»Jorit hat mir erzählt, dass Vater gestorben ist. Warum hast du mir keinen Bescheid gegeben?«
»Wohin hätte ich denn die Todesanzeige schicken sollen?«
»Ich hatte eine Adresse hinterlassen, die Adresse von Vera Etzold.«
»Herr Busse, der Direktor des ›Miramar‹, hat mir gesagt, dass sie tot ist.«
»Ich habe ihr Haus geerbt. Die Post, die in Kassel ankommt, wird zu mir nach Wien geschickt. Ich habe auf jeder Karte, die ich euch geschrieben habe, meine Wiener Adresse vermerkt.«
»Deine Karten!« Insa lachte noch einmal und noch hässlicher als vorher. »Herzliche Grüße aus München, aus Mailand, aus Salzburg! Mir geht’s gut, ich hoffe, euch auch! Mein Gott, wie wir uns über diese Karten gefreut haben!« Insa setzte den Teller,den sie soeben gespült hatte, derart heftig ab, dass er in zwei Teile zerbrach. »Wenn du uns verhöhnen wolltest, dann bist du es richtig angegangen!«
Aletta starrte ihre Schwester erschrocken an, die die beiden Tellerhälften zur Hand nahm, sie verzweifelt betrachtete und ganz so aussah, als wollte sie auch dafür Aletta verantwortlich machen.
»Woran ist Vater gestorben?«, fragte Aletta schnell, ehe ihre Schwester ihr mit weiteren Vorwürfen kommen konnte.
Insa sah auf, ihr Gesicht war mit einem Mal so traurig, dass Aletta nun doch auf sie zutrat und schüchtern ihren Arm berührte. »Jorit sagt, er sei in der Friedrichstraße zusammengebrochen?«
Insa nickte. »Herzschlag! Dabei hatte er nie was am Herzen.«
Aletta nahm die beiden Tellerhälften und fügte sie aneinander. »Das lässt sich kleben.«
Insa starrte darauf, als könnte sie nicht glauben, dass aus diesen beiden Scherben wieder ein brauchbarer Teller würde. Schließlich sagte sie: »Mutter ist krank.«
Aletta legte die Tellerhälften erschrocken auf den Tisch. »Ich habe mich schon gefragt, wo sie ist.«
»Davon hat Jorit Lauritzen also nichts gewusst?« Insa hatte sich wieder in der Gewalt und machte mit dem Spülen weiter. »Sie liegt im Bett. Schon seit Wochen. Der Arzt sagt, es dauert nicht mehr lange.«
Aletta musste sich an der Tischkante festhalten. Sie glaubte plötzlich, sich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. »Sie stirbt?«
Insa sah nicht auf. »Ihr Husten! Sie hustet schon seit Jahren. Hat sie nicht schon gehustet, als du noch da warst?«
Aletta wollte nicht zugeben, dass sie es nicht wusste. »Kann ich zu ihr?«
»Sie ist gerade eingeschlafen, sie braucht Ruhe. Komm morgen noch mal vorbei. Am besten recht früh. Wenn sie eine gute Nacht gehabt hat, kann man mit ihr reden.« Insa hatte den letztenTeller gespült und trocknete sich die Hände ab. »Wenn du sie schon besuchst, sollte sie dich auch erkennen.« Nun wich die Härte für Augenblicke aus ihren Augen. Schon als Aletta noch ein Kind gewesen war, hatte sie oft diese Härte zerbrechen sehen und etwas anderes in Insas Augen entdeckt, was sie immer wieder mit ihrer Schwester versöhnte. Nichts Weiches, nein, auch nichts Feinfühlendes, aber doch etwas, das Aletta zeigte, dass es in Insas Herz ein bisschen Liebe gab. Nicht nur Pflichtbewusstsein. »Sie wird sich freuen«, ergänzte sie leise. »Sie hat nicht damit gerechnet, dich noch einmal zu sehen.«
»Hat sie dich nicht gebeten, mich zu verständigen?«
Darauf antwortete Insa nicht. Wortlos schob sie das Brot in einen Leinensack,
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