Sturm über Sylt
Ludwig etwas sagen, was streng und kategorisch klang. Ja, Ludwig konnte unerbittlich sein, wenn es um ihre Sicherheit und ihren Frieden ging. Aletta lehnte sich zurück und schloss für eine Weile die Augen. Wie sehr sie ihn liebte! Wie dankbar sie ihm war! Er tat alles für sie, nur das eine konnte sie nicht von ihm haben. Seit Frau Wülfke sie mit dieser Frage bedrängt hatte, kreiste sie ständig in ihrem Kopf. Zwar hatte sie viele gute Argumente, die sie hundertmal von Ludwig gehört hatte, aber sie wusste, dass kein einziges ihre Eltern überzeugen würde.
Sie öffnete die Augen und setzte sich aufrecht hin. Dann klingelte sie nach der Friseurin. Warum eigentlich brauchte sie Argumente? Sie war nicht gekommen, um ihre Eltern zu überreden,sie war hier, um sich zu überzeugen, dass sie längst zur Einsicht gekommen waren. Sie wollte sich versichern lassen, dass sie noch immer geliebt wurde! Weil sie das Kind ihrer Eltern war, das ein Recht auf diese Liebe hatte, gleichgültig, was es getan hatte! Und weil sie Insas Schwester war! Wenn diese drei Ludwig Burger ablehnten, weil er sie zwar liebte, aber nicht heiraten würde ... dann wusste sie nicht, was sie tun würde.
Die Friseurin hatte ihr die Haare so straff wie möglich nach hinten gekämmt und mit einem Lack dafür gesorgt, dass sie im Bühnenlicht sanft schimmern würden. Mit einem schlichten Knoten waren sie befestigt worden, über den die Friseurin ein goldenes Netz legte, das mit grünen Federn besetzt war. Ihre Garderobiere war schon vor einer Woche nach Sylt gekommen und würde am nächsten Tag nach Wien zurückkehren. Ludwig hatte Aletta von diesem Plan abbringen wollen, weil sie den Syltern damit vor Augen führte, dass aus ihr ein Luxusgeschöpf geworden war, aber in diesem Fall war sie unerbittlich geblieben. Bei ihrem Make-up wollte sie kein Risiko eingehen. So hatte Ludwig dafür gesorgt, dass niemand erfuhr, wer die Dame aus Wien war, die im Grand-Hotel logierte, und Aletta hatte er verpflichtet, niemandem zu verraten, dass Ella Hofer die Reise nur unternommen hatte, um Aletta Lornsen zu schminken, vorher sämtliche notwendigen Utensilien einzukaufen und sich auf ihre wichtige Aufgabe vorzubereiten.
Niemand verstand die Kunst des Bühnen-Make-ups so wie Ella. Als Aletta in den Spiegel sah, war ihr Teint hauchzart überpudert, mit Rouge war ihm eine gesunde Farbe gegeben worden, ihre Augen waren so geschminkt, dass sie größer und sehr geheimnisvoll wirkten, und ihr Mund war eine einzige leuchtende Verlockung.
»Danke, Ella! Das hätte keiner so hinbekommen wie du!«
Als Aletta hinter die Bühne trat, war aus dem Stimmengewirr im Saal regelrechter Lärm geworden. Laute Rufe ertönten, wenn einer einem anderen über mehrere Köpfe etwas mitteilenwollte, Gelächter erklang, die Stimmung schien ausgelassen zu sein. Aletta wusste nicht genau, ob ihr das gefiel. Sie hätte einer gespannten Erwartung den Vorzug gegeben. Vielleicht, weil sie sich vorstellte, wie ihre Eltern und Insa sich in dieser lauten Vorfreude fühlen mochten. Sie selbst befanden sich vermutlich genau wie Aletta in einem fiebrigen Vorgefühl und litten womöglich unter der Leichtigkeit des übrigen Publikums.
Die Mitglieder des Kurorchesters kamen den Gang entlang, um sich hinter der Bühne aufzustellen. Sie würden als Erste ihren Auftritt haben, aber Ludwig drängte sich prompt hinter Aletta und verhinderte so eine Annäherung, von der er wusste, dass sie sie nicht wünschte. Sie brauchte das Alleinsein kurz vor dem Auftritt, an diesem Tag ganz besonders. Allein sein konnte sie auch, wenn viele Menschen um sie herum waren, vorausgesetzt, sie wurde nicht angesprochen oder über Gebühr beachtet. Auch Ludwig redete in der letzten halben Stunde vor einem Auftritt nur das Nötigste mit ihr, war nur da, immer in ihrer unmittelbaren Nähe, um sie abzuschirmen und zu schützen.
Dann sah Aletta an sich herab. Mit voller Absicht hatte sie ein dunkelgrünes Seidenkleid gewählt, von gleicher Farbe wie das Kleid, das Vera damals trug, als sie Aletta zu sich gerufen hatte, um sie mitzunehmen in ein anderes Leben. Vera sollte auf diese Weise bei ihr sein, sollte ihren Triumph miterleben, diesen Sieg über ihre Vergangenheit.
Aletta machte einen Schritt auf den Vorhang zu, zögerte, als Ludwig »Tu’s nicht, Aletta!« flüsterte, und zerteilte ihn dann doch. Ganz vorsichtig, nur einen winzigen Spalt breit, so winzig, dass er nicht einmal von der ersten Zuschauerreihe zu erkennen sein
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