Sturm über Sylt
auf den Friedhof gezerrt und in einem offenen Grab verscharrt.«
»Und warum kommen Sie erst jetzt damit?«
»Ich war früher mal mit ihm befreundet. Ich wollte ihm nicht schaden. Aber jetzt ...«
Die Tür fiel ins Schloss, Aletta war für einen Moment vergessen worden. Aber Sekunden später ertönte Henksens Stimme: »Die Gefangene wieder in ihre Zelle! Aber schnell!«
Matta stürzte herein, als befürchtete sie, Aletta könnte diesen Augenblick des Alleinseins zur Flucht genutzt haben. Sie machte eine Bewegung mit dem Kopf. »Abmarsch! Zurück in die Zelle!«
Aletta folgte ihr ohne jeden Widerspruch. Als Matta die Tür hinter ihr schloss, ließ sie sich bäuchlings auf ihre Pritsche fallen.
»So gut möchte ich es auch mal haben«, knurrte Matta. »Am helllichten Tag schlafen!«
Aber Aletta hörte sie gar nicht. Wie hatte es dazu kommen können, dass Boncke Broders seinen früheren Geliebten verriet? Sie hatte ihn aufgefordert, Dirk zu helfen, und was tat er? Er machte aus Dirk einen Mörder. Warum?
Aletta drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Sie kannte die Antwort, ohne lange nachzudenken. Emme musste dahinterstecken. Sie hatte Bonckes Briefe gelesen, und dannhatte er das Pech gehabt, ihr in der Stadt über den Weg zu laufen. Vielleicht, als er sich mit Weike treffen wollte, um mit ihr zu einer Einigung zu kommen. So entschlossen, wie Emme vor ein paar Stunden geklungen hatte, traute Aletta ihr zu, Boncke erpresst zu haben. »Wenn du willst, dass ich schweige, musst du tun, was ich will.«
Warum aber konnte Emme wollen, dass Dirk als Mörder verurteilt wurde? Für diese Antwort brauchte Aletta länger, aber schließlich war sie auch hier sicher: Ein Mörder würde aus ihrem Leben verschwinden und nie zurückkommen. Ein Homosexueller würde seine Strafe absitzen und dann weiterhin seine Familie mit Dreck bewerfen. Sie würde sich nicht von dem homosexuellen Dirk befreien können, wohl aber von dem Mörder Dirk. Die Frau eines Mörders erntete Mitleid, die eines Homosexuellen wurde gefragt, ob ihre Reize nicht ausgereicht hätten, ihren Ehemann auf den rechten Weg zurückzuführen.
Was geschah nun mit Dirk Stobart? Henksen würde den Fall als gelöst betrachten, da war Aletta sich sicher. Und dann würde man Dirk wohl als Mörder verurteilen. Lebenslänglich! Aber er war unschuldig, das wusste sie genauso wie Boncke. Was würde geschehen, wenn sie aussagte, dass Kais Tod ein Unfall gewesen war? Dann stand Aussage gegen Aussage. Die Aussage eines Soldaten der deutschen Armee gegen die Aussage einer Gefangenen, die unter Mordverdacht stand.
Aletta setzte sich wieder auf und dachte fieberhaft nach. Ihre Zeugenaussage war nichts wert. Für Dirk etwas tun konnte sie erst, wenn sie frei war, wenn kein Verdacht mehr gegen sie bestand. Doch was dann? Dirk hatte sie gewarnt. Ein Wort über seine Homosexualität, und Sönke wäre nicht mehr sicher. Durfte sie dieses Risiko eingehen?
Die Nacht schien früher hereinzubrechen als sonst. Der Sturm verdüsterte den Himmel, die schweren Wolken verschluckten das letzte Tageslicht, die Straßen leerten sich, keine Stimmewar zu hören. Jeder verbarg sich in seinem Haus und sicherte sein Hab und Gut. Oberkommissar Henksen und Kommissar Wachsmann redeten auf dem Flur von einer schweren Nacht, die Sylt bevorstand. Sie warnten einander und auch die Wärter vor offenem Feuer und dem Gebrauch der Öllampen. »Ein heftiger Windstoß, und ganz Westerland steht in Flammen!«
Matta hatte Aletta das Waschgeschirr in die Zelle gebracht und das Wasser sogar ein wenig erwärmt. Während Aletta sich wusch, lauschte sie auf die Geräusche aus dem Gewölbe der Männer. Dort hatte es im Lauf des Tages einen Neuzugang gegeben, einen riesengroßen Kerl mit nur einem Arm, der beim Stehlen ertappt worden war. Als sich die Zellentür hinter ihm schloss, hatte er Gott und die Welt verflucht, alle Polizisten dieser Erde beschimpft und den Himmel um Gerechtigkeit angefleht, der ihm nicht genug zu essen gab und ihn damit zum Stehlen zwang. Das tat er so lange, bis ein anderer ihm androhte, ihm beim nächsten Hofgang das Maul zu stopfen, und zwar so gründlich, dass er nie wieder ein Wort herausbringen werde.
Dirk hatte sich nicht eingemischt. Seine Stimme war kein einziges Mal zu gehören gewesen, obwohl er mehrfach aufgefordert worden war, sich zu dem Geschrei des neuen Gefangenen zu äußern. Doch Dirk hatte nicht geantwortet. Daraufhin war den beiden anderen die Lust am
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