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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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nicht verzeihen konnte, dass sie zur Welt gekommen war, wog das alles schwer genug, um sie hier einsam und elendig zugrunde gehen zu lassen?
    Solange die Finsternis über dem Gefängnis stand, konnte Aletta nicht daran glauben, dass von Insa Hilfe zu erwarten war, aber jedes Mal, wenn die Morgendämmerung aufzog, wurde es auch in ihrer Zuversicht heller. Nein, Insa konnte nicht zulassen, dass sie für etwas büßte, was sie nicht getan hatte. Insa hatte Hauptmann Kalkhoff erschlagen. Aus Notwehr! Oder war sie zu feige, das einzugestehen? War sie erleichtert, dass niemand sie zur Rechenschaft ziehen würde, weil die Polizei eine andere Täterin gefunden hatte? Aber was war mit Jorit? Der würde nicht zulassen, dass Alettas Leben zerstört wurde. Sie glaubte sogar, dass auch Reik ihr helfen würde, wenn er könnte. Nein, da draußen musste etwas vor sich gehen, wovon sie keine Ahnung hatte. Irgendwas war geschehen, was sie von der Welt und von den Menschen, die ihr nahestanden, abgeschnitten hatte. Nur ... was?
    Sie fuhr in die Höhe, als der Wind an den Gittern der hohen Fenster rüttelte. Er hatte stark zugenommen, war zu einem Sturm geworden, der fauchte, brüllte und tobte. Mal heulte er wie ein ruheloser Geist durch alle Ritzen im Mauerwerk, dann wieder stapfte er wie ein wütender Riese ums Haus und rüttelte am Dach und an den Traufen. Gegen Morgen, als es endlich hell wurde, begriff Aletta, dass der erste Herbststurm dieses Jahres über Sylt tobte. Die Insel würde wieder einen Teil der Kliffkante einbüßen und manches Stück Land dem Meer opfern müssen.Sogar das Morgenlicht schien vom Sturm geschüttelt zu werden. Es stand nicht ruhig vor dem Fenster, sondern wurde von jagenden Wolken zerrissen und von wirbelnden Blättern und Staub durchlöchert.
    Der alte Uwe aus dem Nachbarhaus, der für die nächtliche Bewachung der Gefangenen zuständig war, erschien mit der Morgendämmerung, um zu sehen, ob im Gefängnis alles in Ordnung war. Er gehörte nicht zu den Pflichtbewussten, die die Aufgabe, für die sie bezahlt wurden, ernst nahmen. Noch nie hatte er eine ganze Nacht im Gefängnis verbracht, wie es sein sollte. Er war der Meinung, dass es vollkommen ausreichte, wenn er in der Nähe war. Und sein Bett war schließlich nur wenige Meter von den Gefängnismauern entfernt. Er warf einen Blick in die Zellen, bevor er sich schlafen legte, und schaute wieder nach den Gefangenen, bevor die Beamten der Tagesschicht ihren Dienst begannen. Das musste genügen!
    Diesmal aber war er vom Sturm aus dem Bett gerüttelt worden und auf die Idee gekommen, dass es einen schlechten Eindruck machte, wenn der starke Wind ein Fenster eingedrückt hatte, ohne dass es von ihm bemerkt worden war. Uwe sah also nach dem Rechten. Er durchschritt, majestätisch aufgerichtet, die beiden Gewölbe, hielt sich bei den Männern nicht lange auf, betrachtete Aletta aber etwas ausgiebiger und ließ sich sogar auf ein Gespräch mit ihr ein.
    »Kennen Sie meine Schwester? Insa Lornsen?«
    »Klar, die kennt hier jeder.«
    »Und Jorit Lauritzen?«
    »Den auch.«
    »Haben Sie die beiden in den letzten Tagen gesehen?«
    Uwe kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Den Jorit gestern noch.«
    »Und? Geht’s ihm gut?«
    »Sah ganz gesund aus.«
    »Hat er nach mir gefragt?«
    Uwe glotzte sie erstaunt an. »Ne. Warum auch? Der weiß doch, dass ich keine Amtsgeheimnisse preisgeben darf.«
    »Und meine Schwester?«
    »Die hat entweder gesundheitliche Malaisen oder sich die Kleidung zerrissen. Meine Frau sagt, sie hat sie in den letzten Tagen häufig mit Frauke Lützen gesehen. Die Näherin von der Steinmannstraße, die sich auch mit Kräutern auskennt.« Anzüglich setzte er hinzu: »Und mit noch ein paar anderen Sachen.«
    Es gab ein winziges Zimmer im Gefängnis, das in den Hof führte und wie alle anderen vergitterte Fenster hatte. Dieses Zimmerchen wurde benutzt, wenn ein Gefangener Besuch bekam und ihm ein vertrauliches Gespräch gestattet worden war. Selbstverständlich konnte es nicht unter vier Augen geführt werden, denn einer der Wärter hatte darauf zu achten, dass dort nichts geschah, was die Dienstvorschriften verboten. Aber immerhin gab es eine private Atmosphäre, in der ein Gefangener mit einem Angehörigen reden konnte, ohne dass seine Mitgefangenen zuhörten. Das Fenster dieses Zimmers wurde meistens geöffnet, wenn ein Gefangener Besuch bekam, weil in dem kleinen Raum, der selten benutzt wurde, die Luft abgestanden war.
    Aletta hatte Hofgang.

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