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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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Sie durfte eine halbe Stunde lang im Kreis laufen, die Bewegung genießen und frische Luft schnappen, was Matta ihr offerierte wie ein Zugeständnis, das aus Milde und Großzügigkeit entstanden war und ihr nicht etwa von Rechts wegen zugebilligt wurde. Aletta zog brav ihre Runden, weil sie wusste, wie wichtig es war, sich Bewegung zu verschaffen. Die Lethargie, die größte Gefahr aller Gefangenen, begann sich ihrer bereits zu bemächtigen. Ich bin sowieso verloren, wisperte es in ihrem Kopf, warum soll es da noch wichtig sein, dass ich gesund bleibe? Mir hilft niemand, ich werde für eine Tat büßen müssen, die meine Schwester begangen hat, dafür, dass ich einmal berühmt und erfolgreich war, und sogar dafür, dass ich auf die Welt gekommen bin.
    Mühsam schleppte sie sich über den Hof, mal vom Sturm getrieben, mal gegen ihn gestemmt, von Matta mit zufriedenem Blick verfolgt, die sich in eine Ecke zurückgezogen hatte, wo sie vor dem Wind geschützt war. Wenn ich zu lebenslanger Haft verurteilt werde, dachte Aletta, will ich gar nicht gesund sein, sondern möglichst bald sterben. Mich einfach hinlegen, einschlafen und nie wieder aufwachen. Heimkehren zu Mama ...
    Aber sie machte weiter einen Schritt vor den nächsten, und als sie unter dem Fenster des Besuchszimmers vorbeikam und die Stimme hörte, war es mit ihrer Lethargie vorbei. Emme! Das war eindeutig Emmes Stimme! Aletta blieb stehen und versuchte zu lauschen, wurde aber gleich von Matta weitergetrieben.
    »Voran! Nicht, dass es hinterher heißt, Sie hätten hier nicht bekommen, was Ihnen zusteht!«
    Aletta trottete weiter, den Kopf gesenkt, aber den Geist hoch erhoben und die Gedanken frei. Fragen vertrieben die Lethargie. So weit war es noch nicht mit ihr gekommen, dass sie sich nicht mehr verzweifelt fragte, warum Dirk von seiner Frau Besuch erhielt, während sich um sie niemand kümmerte.
    Die Tür, die in den Hof führte, wurde geöffnet, und Kommissar Wachsmann rief heraus: »Matta! Kannst du mal eben kommen?«
    Matta sah fragend zu Aletta, aber Wachsmann winkte ab. »Abhauen kann sie nicht.«
    Matta nickte, warf Aletta noch einen scharfen Blick zu, dann folgte sie dem Kommissar.
    Kaum war sie weg, schlich Aletta unter das Fenster des Besucherraums. Vielleicht konnte sie Emme auf sich aufmerksam machen, ohne dass der Wärter es bemerkte! Emme nach Jorit und Insa fragen! Ihnen Grüße ausrichten! Sie um Besuch bitten!
    Emmes Stimme war leise, denn der Wind heulte gegen sie an, und Dirk war gar nicht zu hören. »Ich habe mich mit der Buchführung beschäftigt«, sagte sie. »Einer muss sich ja darum kümmern, wenn du weg bist.«
    »Wir haben keine Aufträge«, gab Dirk müde zurück. »Also brauchen wir auch keine Buchführung.«
    Aber Emme ging nicht auf seinen Einwand ein. »Ich habe mich sehr genau mit den Unterlagen beschäftigt und alles durchsucht, was in deinem Schreibtisch zu finden war.«
    »Emme?«, tuschelte Aletta und wartet aufgeregt auf eine Reaktion. »Emme!«, flüsterte sie gegen den Wind an.
    Der Wärter würde an der Tür stehen und sie bewachen, Emmes Stimme klang nah, als säße sie in der Nähe des Fensters. Der Wärter döste vermutlich vor sich hin und war nicht besonders aufmerksam. Also gab es eine kleine Chance, dass Emme sie hörte, aber der Wärter nicht.
    »Emme!«
    Ein Stuhl scharrte, aber niemand trat an das vergitterte Fenster.
    »Du hast meinen Schreibtisch durchsucht?«, fragte Dirk.
    »Das musste ich doch, um über alles Bescheid zu wissen.«
    »Emme!«, zischte Aletta, nun etwas lauter. »Kannst du mich hören?«
    Aber wieder gab es keine Reaktion.
    »Ich habe auch Briefe gefunden«, fuhr Emme fort. »In einem Fach, das du abgeschlossen hattest. Den Schlüssel müsste ich lange suchen.«
    »Auseinander!«, hörte Aletta den Wärter rufen. Anscheinend hatte Dirk versucht, seine Frau zu berühren. »Noch einmal, und die Besuchszeit ist zu Ende!«
    Wieder war Stühlerücken zu hören, Dirk hatte wieder Platz genommen. Eine kurze Stille trat ein.
    »Emme! Bitte schau aus dem Fenster!«
    Aber die Chance blieb ungenutzt. Emme schien nichts wahrzunehmen, sondern mit allen Sinnen auf das Gespräch mit ihrem Mann konzentriert zu sein.
    »Ich werde nicht wiederkommen, Dirk. Du siehst mich heute zum letzten Mal.«
    Dirks Stimme klang fassungslos. »Was soll das heißen?«
    »Dass ich die Briefe gelesen habe. Reicht dir das als Antwort? Ach ja ... gestern habe ich zufällig Boncke Broders getroffen. Ich soll dir Grüße

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