Sturm über Sylt
dem »Hotel Lauritzen« vorsichtig zu nähern. Maike musste wissen, dass sie verhaftet worden war, und würde nicht zulassen, dass sie ihre Freiheit zurückerhielt.
Als sie in der Paulstraße angekommen war, blickte Aletta sich unauffällig um. Niemand zu sehen! Der Sturm jagte um die Häuser. Wer sich nicht draußen aufhalten musste, verzog sich hinter den Ofen. Im »Hotel Lauritzen« brannte Licht, sowohl in der ersten Etage als auch im Erdgeschoss. Ganz oben, in Jorits Wohnzimmer, war es dunkel. Ob er Dienst hatte? Womöglich waren die Soldaten der Inselwache verpflichtet worden, der Feuerwehr bei der Sicherung der Insel gegen den Sturm zu helfen!
Sie schlich sich in den Garten und versuchte, durch die Fenster zu blicken. Beeke konnte sie erkennen und Maike Peters, die sich ein dampfendes Teeglas von ihr aushändigen ließ und damit aus dem Raum ging. In die erste Etage? Zu Tomma?
Als sie auf die Straße zurückgehen wollte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Die Haustür öffnete sich, und Stimmen drangen heraus. Dicht drängte sie sich in einen Busch, damit sie nicht gesehen wurde. Die männliche Stimme, die sie jetzt vernahm, gehörte zu Ocke Peters. »Ich muss Jorit verständigen. Er muss zu seiner Frau kommen.«
Beekes Stimme war es, die antwortete: »Steht es wirklich so schlimm um sie?«
Dr. Peters zögerte, ehe er gepresst erwiderte: »Ich befürchte das Schlimmste. Ich wusste immer, dass es in einer solchen Nacht geschehen würde. Tomma hat das Kind auch in einer solchen Sturmnacht bekommen. Ich glaube, ihr Unterbewusstsein suggeriert ihr Angst. Sie wehrt sich, sie kämpft gegen ihre Angst, sie verbraucht ihre schwachen Kräfte für diese Angst.«
Ein unterdrücktes Schluchzen klang herüber. Ob es von Beeke oder Ocke Peters kam, konnte Aletta nicht sagen. Dann aber hörte sie Beeke sagen: »Jorit macht Dienst in der Nähe der Konzertmuschel.«
Ocke Peters’ Stimme klang besorgt. »Das Betreten der Plattform bei Dunkelheit ist verboten. Ob man mich zu ihm lässt?«
»Sie müssen es versuchen, Doktor. Bei diesem Sturm schaut keiner so genau nach den Vorschriften.«
Die Tür fiel ins Schloss, Aletta wagte sich aus ihrem Versteck. Ocke Peters ging bereits die Paulstraße entlang, mit gesenktem Kopf, mit hängenden Schultern, als könnte er das Leid, das auf ihm lastete, nicht mehr ertragen.
Sie folgte ihm unauffällig, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Die arme Tomma! Jene Nacht hatte ihr Leben zerstört und war sogar jetzt noch in der Lage, das bisschen Leben zu gefährden, das ihr geblieben war. Immer wieder! Jede Sturmnacht aufs Neue!
Dr. Peters ging mit großen Schritten die Friedrichstraße hinab, Aletta gab es nun auf, immer wieder nach einer Deckung zu suchen für den Fall, dass er sich umsehen könnte. Tommas Vater war in Gedanken bei seiner Tochter, es fiel ihm nicht ein, sich umzublicken.
In der Nähe des »Miramar« sprach er einen Soldaten an, der dort auf Posten war. Aletta wagte sich nicht so nah heran, dass sie das Gespräch verstehen konnte, aber sie nahm an, dass Ocke Peters nach seinem Schwiegersohn fragte und die Bitte vortrug, ihn zu seiner Frau zu holen, deren Leben in Gefahr sei. Der Soldat tippte an seine Mütze, nickte ein paar Mal, dann kehrte Ocke Peters um, und der Soldat machte sich auf den Weg über die Plattform zur Konzertmuschel. Aletta war sicher, dass er nun Jorit Bescheid sagte. Sie wandte sich ab und ließ Dr. Peters in ihrem Rücken vorbeigehen. Erst als sie sicher war, dass er in der Neustraße verschwunden war, die die Friedrich- mit der Strandstraße verband, ging sie weiter. An der Stelle, wo der Wachtposten gestanden hatte, sah sie die Plattform entlang. Hier würdeJorit den Strand verlassen, um nach Hause zu gehen. Sie würde ihn nicht lange aufhalten, er musste ja zu seiner Frau. Nur fragen wollte sie ihn, warum er sie kein einziges Mal im Gefängnis besucht hatte. Und Insa auch nicht! Das musste er ihr erklären, dann würde sie ihn gehen lassen und sich überlegen, wo sie die Nacht zubrachte.
Sie stellte sich in den Wind, genoss seine Kälte, obwohl sie fror, hielt ihm das Gesicht hin, obwohl ihre Augen zu tränen begannen, überließ ihm ihre Haare und schwankte unter seiner Kraft. Sie war der schrecklichen Haft entkommen! Das schrien ihr die Möwen zu, das brüllte die Brandung, das heulte der Wind. Sie musste ihre Unschuld beweisen, so bald wie möglich, dann würde alles gut sein. Aber dafür musste sie mit Insa reden!
Lange brauchte sie nicht
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