Sturm über Sylt
Stube gedient hatte. Sie hatte in ihrem Laden gewohnt oder in ihrer Stube verkauft, je nachdem. Seit aber immer mehr Feriengäste nach Sylt kamen, hatte sich das Warenangebot vergrößert, und Rosi hatte ihre Stube in einem Raum eingerichtet, der sich dem Laden anschloss. Doch der Begriff Stuben-Laden war geblieben. Er lag am Anfang der Damenbadstraße, also nicht weit vom Südbahnhof entfernt. Und außerdem in unmittelbarer Nähe des »Grand Hotel«! Aletta lächelte, als sie das große Schild mit dem Namen des Hotels las, das sich kaum verändert hatte. Der Putz war erneuert worden, strahlend weiße Gardinen schmückten die Fenster, von der Eingangstür führte ein schmaler roter Läufer ins Innere des Hotels, davor stand ein Portier in beeindruckender Livree, mit bedeutungsvoller Miene und strammer Haltung. Aletta blieb stehen und betrachtete das Haus, in das sie jahrelang täglich gegangen war und sich jedes Mal, wenn sie es betrat, gefragt hatte, wie lange sie würde durchhalten müssen.
In der ersten Etage wurde ein Fenster geöffnet, eine Frau, die eine weiße Schürze vorgebunden hatte, schüttelte ein Staubtuch aus. Aletta sah genauer hin. Konnte das Weike Broders sein? Vor zehn Jahren war sie Hausdame gewesen, anscheinend hatten ihre bescheidenen Fähigkeiten dem aufblühenden Tourismus nichtstandgehalten. Als Hausdame wäre sie nicht für das Reinigen der Gästezimmer zuständig gewesen.
Ja, es war Weike Broders, die gerade das Fenster wieder schließen wollte. Weike Broders, deren Schicksal viel tiefer mit Alettas verzahnt war, als sie ahnte. Aletta winkte und lächelte in die erste Etage hoch. Die Frau stutzte, sah genauer hin ... dann warf sie das Fenster zu, wandte sich ab und ging ins Zimmer zurück, ohne auf den Gruß zu reagieren. Aletta ließ ihre Hand ernüchtert sinken. Hatte sie sich geirrt? War diese Frau doch nicht Weike Broders gewesen? Oder war sie von ihr nicht erkannt worden?
Sie spürte das Nagen der Enttäuschung noch, als sie Rosi Nickels’ Stuben-Laden betrat. Der kleine Raum war vollgestopft mit Waren, in denen Rosi, klein, wie sie war, manchmal zu verschwinden schien. Auch jetzt hockte sie fast unsichtbar hinter ihrer hohen Waage und den vielen Gewichten, die dazugehörten, hinter Käserädern, neben Speckseiten und dicken Würsten, unter Handfegern und Scheuerbürsten, die von der Decke baumelten, und betrachtete ein Sortiment von Wasserkesseln, von dem sie nicht wusste, wo sie es unterbringen sollte. In den Regalen stand alles, was zum Leben benötigt wurde, nur Obst und Gemüse führte sie nicht. Das ernteten die Sylter im eigenen Garten.
»Aletta Lornsen! Was für eine Ehre!« Rosi Nickels sprang auf und überragte ihre Waage nun.
Aletta gab mit einer kleinen Handbewegung zu verstehen, dass sie keine Komplimente hören und auch nicht über ihren Erfolg als Sängerin reden wollte. Sie war froh, dass ihr Erscheinen auf Sylt von den aktuellen politischen Nachrichten überholt worden und ihre Popularität in den letzten Wochen immer weiter in den Hintergrund getreten und bedeutungsloser geworden war. Von einigen wurde sie mittlerweile behandelt, als wäre sie nie fort gewesen, und nur noch wenige merkten auf, wenn ihr Gesang auf der Straße zu hören war, weil sie Ludwig versprochen hatte, zu singen, wenn sie an ihn dachte, wenn sie ihm nah sein wollte.
Rosi Nickels verstand sofort und wurde prompt geschäftlich: »Womit kann ich dienen?«
Als Aletta kurz darauf das Mehlsäckchen in ihrem Korb verstaut hatte und bezahlte, öffnete sich die Tür, und eine weitere Kundin trat ein. Sie stutzte, als sie Aletta sah, dann ging ein Lächeln über ihr Gesicht. »Wir haben uns noch nicht gesehen, seit du zurück bist!«
Emme Stobart war, als sie noch Emme Lauritzen hieß, mit Aletta zusammen konfirmiert worden. Ein Streich, den sie gemeinsam der Haushälterin des Pfarrers gespielt hatten, war zum Vermittler ihrer Freundschaft geworden. Jorit war damals der einzige Mitwisser gewesen. Er hatte ihnen später geholfen, damit niemand herausbekam, wer Urte Ollmann eine Maus ins Bett geschmuggelt hatte, und zum Dank für seine Hilfe hatte er Aletta zum ersten Mal küssen dürfen. Emme galt seitdem als diejenige, die den Grundstein der Liebe gelegt hatte, die Jorit und Aletta während der folgenden zwei Jahre verband.
»Dabei war ich schon in deinem Haus«, sagte Aletta, »aber da wusste ich noch nicht, dass du mit Dirk Stobart verheiratet bist.«
»Mein Mann hat mir davon erzählt.
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