Sturm über Sylt
Staatsoper. Sie haben die Frasquita in ›Carmen‹ gesungen. Wunderbar!«
Aletta sah ihn erfreut an, aber ihr Lächeln gefror augenblicklich, als sie Insas eisigen Blick bemerkte. »Danke«, sagte sie leichthin, als habe er sie für ein gutes Essen oder ein hübsch bepflanztes Blumenbeet gelobt. »Anton Heussner wollte in dieser Saison eigentlich an der Hamburger Staatsoper dirigieren. Im August sollten die Proben zu ›Madame Butterfly‹ beginnen. Aber der Krieg ...« Sie brach ab, weil Insas Blick sie noch immer irritierte und die übertriebene Leutseligkeit des Pfarrers sie durcheinanderbrachte. »Der Tee ist gleich fertig.«
Aber Reik Martensen schien nichts von der explosiven Stimmungin dieser Küche zu bemerken. »Natürlich ist mir der Name Lornsen aufgefallen. Aber ich habe an eine zufällige Übereinstimmung geglaubt. Niemals hätte ich gedacht, dass dort auf der Bühne Insas Schwester steht. Ich hatte ja nicht einmal eine Ahnung, dass es eine Schwester gab.«
Frerich versuchte nach wie vor, die Fäden der Unterhaltung in der Hand zu halten. »Reik hat sich immer für Musik interessiert«, erklärte er Aletta. »Er hat selbst eine sehr schöne Stimme. Damals war er die Stütze unseres Kirchenchors.« Er tätschelte Alettas Hand. »So wie du später.«
Aletta goss den Tee ein, holte Gebäck aus dem Vorrat und schüttete es in ein Schälchen, das sie auf den Tisch stellte. Insa betrachtete ihre Hände, als fragte sie sich, ob es für diese nichts zu tun gäbe. Als Antwort drückte Aletta ihre Schwester auf einen Stuhl, Reik direkt gegenüber. Sie bemerkte, dass die beiden versuchten, sich anzusehen, dann mit den Augen voreinander flohen, den Blick des anderen suchten, ihn aber im nächsten Augenblick wegspringen ließen an die Küchenwand oder aus dem Fenster.
Währenddessen verlieh der Pfarrer seiner Freude Ausdruck, dass Reik Martensen zur Inselwache abkommandiert worden war. »Ich weiß, dass sie Leute brauchen, die sich auf Sylt auskennen. Andererseits haben sie viele Sylter an die Front geschickt, die hier besser aufgehoben wären. Ob diese Kommandanten wissen, was sie tun? Und ob der Kaiser es weiß?«
Aletta beobachtete ihn, wie er redete, wie er selbstverständlich das Wort an sich riss, weil er es gewöhnt war, dass man ihm zuhörte, wie er seine Meinung verkündete, als stünde er auf der Kanzel. Konnte dieser Mann auch ganz anders sein? Leidenschaftlich, verrückt vor Liebe, leichtsinnig und unmoralisch? Er betrachtete sie oft mit einem seltsamen Blick und schien zu glauben, dass sie es nicht bemerkte. Und er war viel in ihrer Nähe, hielt sich häufig in diesem Hause auf. Dass er so oft zu Besuch kam, musste einen Grund haben. Er wollte den beiden Schwesternzur Seite stehen, bis sie sich wieder aneinander gewöhnt hatten? Aletta glaubte ihm kein Wort.
Sie würde ihn beobachten, alle Indizien sammeln und ihn, sobald sie aus ihnen Beweise gemacht hatte, zwingen, sich zu ihr zu bekennen. Sie richtete ihren Oberkörper auf, weil sie plötzlich eine Stärke in sich fühlte, die auch Geert Lornsen gefühlt haben mochte, als er beschloss, das Kind eines anderen aufzuziehen, als wäre es sein eigenes. Damals, als er eingesehen hatte, dass das Leben weitergehen musste.
Sylter Kriegsblatt: Die Falle schnappte zu! Die Schlacht bei Tannenberg endete mit der Gefangennahme von 125 000 Russen! Der Angriff der Russen auf deutsches Territorium misslang gründlich. Weil die Russen gleichzeitig an der Grenze zu Österreich-Ungarn kämpften, schickten sie nur zwei Armeen nach Ostpreußen! Ein stümperhafter Plan! Eine der beiden Armeen wurde eingekesselt und vollkommen vernichtet!
Nach Reik Martensens Besuch änderte sich manches. In den Tagen darauf kam es Aletta so vor, als sähe Insa durch sie hindurch, als zöge sie sich noch weiter zurück, als wollte sie noch weniger die Anwesenheit ihrer Schwester zur Kenntnis nehmen. Aletta musste sie häufig mehrfach ansprechen, bis sie zu Insa durchdrang, bis ihre Schwester aus einer Gedankenwelt zurückkam, die weit weg zu sein schien. Dann sah sie Aletta erschrocken an und schien erst im zweiten oder dritten Moment zu begreifen, wen sie vor sich hatte. Wenn Aletta sie heimlich beobachtete, stellte sie manchmal sogar fest, dass Insa lächelte, während sie eine Arbeit verrichtete, und ein anderes Mal sah sie, dass sie heimlich weinte. Aber den Versuch, ihr ein offenes Ohr und die Möglichkeit zu schenken, sich von der Seele zu reden, was sie bewegte, bereute sie
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