Sturm über Sylt
das Folgende auszusprechen: »Ich hatte nichts mehr von Insa gehört. Sie war ja monatelang nicht auf der Insel. In Hamburg bei Verwandten, das hatte sie mir gesagt. Ein kurzer Besuch sollte es sein, aber dann kam sie nicht zurück. Und sie hat mir kein einziges Mal geschrieben.«
Auch die Stimme des Pfarrers veränderte sich nun. Sie wurde lauter und dröhnend, wollte etwas weismachen, was niemand in der Küche glauben würde. »Junge Liebe! So ist das eben! Ihr wart beide noch nicht richtig erwachsen! Da vergisst man schnell!«
Durch Alettas Kopf jagten die Gedanken. Hatte sie nun erfahren, warum Insa nicht heiraten wollte? Warum sie jeden Antrag abgewiesen hatte? Reik Martensen war ihre erste, ihre große, anscheinend ihre einzige Liebe gewesen, dessen war sich Aletta nun sicher. Die paar Sätze hatten ihr alles verraten. Und das, obwohl ihre Schwester kein einziges Wort beigetragen hatte. Und ihre Eltern waren gegen diese Verbindung gewesen. Warum? Weil Insa noch so jung war? Wollten sie nicht daran glauben, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen schon aufrichtig lieben konnte?
Nun wollte Aletta unbedingt das Gesicht ihrer Schwester sehen. Wenn sie schon nicht sprach, wollte sie in ihren Augen lesen, ob sie Reik Martensen geliebt hatte und vielleicht immernoch liebte, ob die Eltern ihr die Chance verbaut hatten, glücklich zu werden, weil Reik Martensen aus irgendwelchen Gründen nicht der Richtige für sie gewesen war.
Entschlossen betrat sie die Küche und fühlte sich, wie sie befürchtet hatte, schlagartig als Eindringling. Insa zeigte ihr ja mehrmals täglich, dass sie nicht mehr in dieses Haus gehörte, jetzt jedoch sprühte ihr die Ablehnung geradezu entgegen. So viel Unversöhnlichkeit hatte sie noch nie in Insas Augen gesehen, noch nie so viel Grimm und Feindseligkeit. In diesem Augenblick glaubte Aletta zu verstehen, warum Insa sie nicht lieben konnte. Sie hatte an der Seite der Mutter in Hamburg ausharren, hatte warten müssen, bis ihre kleine Schwester auf der Welt war, und während dieser Monate hatte sich ihr Schicksal entschieden. Als sie nach Sylt zurückkehrte, war Reik Martensen nicht mehr da gewesen, war ihre Liebe verloren. Kein Wunder, dass Aletta für sie die Schuldige war!
Insa lehnte am Spülstein, die Arme vor der Brust verschränkt, die Finger auf ihren Oberarmen in ständiger Bewegung. Reik Martensen saß neben Pfarrer Frerich am Tisch, seine Mütze auf dem Schoß, und ließ Insa nicht aus den Augen.
Aletta nahm den Kessel vom Herd und goss heißes Wasser ein. »Ich koche uns einen Tee.«
Reik Martensen bedankte sich höflich, versicherte, wie gut ihm ein Tee tun würde, dann entstand dieses lähmende Schweigen, das sich immer dann ausbreitete, wenn es viel zu sagen gab. Aletta kämpfte das schlechte Gewissen nieder, das sie anfiel, weil sie sich schuldig an diesem Schweigen fühlte.
Der Pfarrer fühlte sich als Herr der Lage, obwohl er es nicht war. Dass dieses Zusammentreffen eine Moderation brauchte, schien er zu spüren, und dass er der Richtige dafür war, stand für ihn außer Frage. »Späte Schwangerschaften verlaufen oft problematisch. Soviel ich weiß, ahnte Witta nichts davon, dass sie wieder in gesegneten Umständen war, als sie nach Hamburg aufbrach. Und dort wurde ihr strenge Bettruhe verordnet.«
»Du hättest mir schreiben können«, sagte Reik Martensen zu Insa.
Endlich redete sie, und ihre Stimme klang, als ginge es um ein entlaufenes Huhn oder einen versalzenen Eintopf. »Meine Güte, Reik! Das ist so lange her!«
Insa hatte sich nun in der Hand, sie ging zum Schrank, holte Teetassen heraus und stellte sie auf den Tisch, ohne dass ihre Hände zitterten, während Aletta die Teeblätter hervorholte und sie in ein Sieb gab.
Der Pfarrer beschloss, das Schwere, Belastende, Erinnerungsträchtige aus der Küche zu verscheuchen, indem er das Thema wechselte. »Aletta lebte bisher in Wien«, klärte er Reik auf. »So hat dieser schreckliche Krieg auch was Gutes. Aletta ist nach Sylt zurückgekehrt.«
»Aletta?« Reik Martensens Blick wurde nachdenklich, dann fuhr ein Ruck durch seinen Körper. »Aletta Lornsen? Die Sängerin? Himmel, ich hatte keine Ahnung, dass es sich um Insas Schwester handelt.«
Der Pfarrer lächelte stolz, aber seiner Eitelkeit mischte sich Verlegenheit bei, als sein Blick Alettas traf. »Ihre Laufbahn als Sängerin ist einzigartig.«
Reik Martensen war sehr aufgeregt, als er sich Aletta zuwandte. »Ich habe Sie in Hamburg gesehen, in der
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