Sturm ueber Thedra
Aganez in Wettergrube aus seinem eigenen Haar neu geflochten hatte, wies auf keinerlei Besonderheit hin, außer, dass sie vielleicht ein wenig dick geraten schien. Es war allerdings auch nötig gewesen, diesem Bogen eine wirklich starke Sehne zu geben, denn obwohl er kaum zwei Ellen lang war, schleuderte er die Hartholzpfeile mit den Stahlspitzen, die Aganez im Köcher bei sich trug, weiter als jeder hölzerne Langbogen. So hatte sich Aganez dafür entschieden, auch diesem Wunderwerk seiner Waffenbaukunst ein unauffälliges, ja geradezu schäbiges Aussehen zu geben.
Was dem Magier bei seinen Waffen in so hervorragender Weise gelungen war, hatte in Bezug auf seine Person und sein Auftreten allerdings keine Gültigkeit. Wer immer den hochgewachsenen Alten mit dem wehenden, weißen Haar erblickte, mußte von der imposanten Erscheinung des Greises beeindruckt sein. Auch der weite Umhang seiner Zunft, den er den Magiern von Hestron zum Trotz immer noch trug, zog allgemein die Blicke auf sich, auch wenn heutzutage niemand mehr die Bedeutung dieses Kleidungsstücks kannte. Die ungeduldige, herrische Art, in der Aganez' mit seinen Mitmenschen umging, tat ein Übriges, ihn insgesamt zu einer unvergeßlichen Erscheinung zu machen, die Stoff für Vermutungen und Gerüchte aller Art hergab, wo immer der Magier auftauchte.
Aganez wanderte über Neu-Eraji, Bergen und Waldstiege immer weiter nach Westen und fragte die Einwohner überall nach einer durchreisenden, jungen Thedranerin. Doch niemand konnte ihm Auskunft geben. Es waren zwar etliche Thedraner auf den Straßen Estadors unterwegs, aber das waren vor allen Dingen Kaufleute, die mit ihrer Ware über Land irrten, weil sie sich nicht mehr in die Hauptstadt zurückzukehren getrauten. Niemand hatte eine allein reisende Frau gesehen, oder auch nur von ihr gehört. - Also zog Aganez weiter. Irgendwann mußte er den Punkt erreichen, wo die Hüterin ihre Wanderschaft unterbrochen hatte, und dann würde man weitersehen.
Zwei Nischen hatte der Magier auf seiner Wanderschaft bislang aufgesucht, und beide waren unberührt gewesen. Die Ungewißheit ließ ihn immer übellauniger werden, und kurz vor Hochstadt war er drauf und dran umzukehren, sich einen anderen Helfer zu suchen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
In Hochstadt selbst hielt er sich drei Tage auf, besuchte den Markt und fragte mehr als hundert Reisende auf das Genaueste aus. Zwar erfuhr er hier auch nichts über den Verbleib Teris, aber trotzdem erhielt er einen wichtigen Anhaltspunkt. Etliche Reisende hatten auf der Straße zwei bewaffnete Fremde getroffen, die mit einem Stummen über Land zogen und der Beschreibung nach nur Dramilen sein konnten. Sie hatten sich friedlich verhalten und in den Gasthäusern sogar ihre Zechen bezahlt, wie Aganez erfuhr. Bald schon wurde ihm allerdings klar, was die Dramilenpatrouille hier im tiefsten Hinterland Estadors zu suchen hatte. Die Dramilen waren genau wie er nach Westen gegangen, hatten einen Vorsprung von etlichen Tagen - und sie hatten sich, genau wie er selbst, nach einer jungen Frau aus Thedra erkundigt.
Aganez verdoppelte seine Anstrengungen. Die Dramilen waren unterwegs, um Jagd auf die junge Frau zu machen, da war sich der Magier ganz sicher - und er war nicht bereit, das zuzulassen. Unermüdlich eilte er nach Westen, den Bewaffneten hinterher. Er hoffte, nicht zu spät zu kommen. Schon immer hatte er sich in der Rolle als Held, Retter und Helfer am besten gefallen, und je größer die Gefahr gewesen war, umso wohler hatte er sich gefühlt. Er würde die Dramilen finden und aufhalten, das war sicher. Mit fliegenden Schritten eilte er der Patrouille nach, spürte weder Hunger noch Durst, weder Schmerz noch Müdigkeit und hielt nur manchmal für kurze Zeit an, um ein wenig von dem weißen Pulver zu schnupfen, das ihm die nötige Kraft verlieh. - Als die ersten kalten Winde aus dem Norden über das Flachland jagten, sah er vor sich die Stadt Tregh in einer Senke liegen. - Aganez wußte, dass er den Dramilen dicht auf den Fersen war!
Szin eb Szin rüstete sich für den letzten entscheidenden Schlag, mit dem er diese verfluchte kleine Hündin, die ihm soviel Mühe bereitet hatte, ein für allemal von der Welt fegen würde. Er und die zwei Bogenschützen, die ihn begleiteten, hatten sich für die Nacht im Gasthaus von Tregh einquartiert, denn es war Herbst, und die Kälte der Nacht hätte eine Übernachtung im Freien zu einer unnötigen Strapaze werden lassen.
Der Gastraum
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