Sturm
hinter ihnen. Ab und zu drehte sich Daneel um und sah sie an, ohne je etwas zu sagen.
Ana wartete, bis seine Aufmerksamkeit nachließ, dann sagte sie leise: »Ich sollte Zan Phirku eine Notiz schreiben und meine Situation erklären.«
»Kann er lesen?«, fragte Jonan.
Ana runzelte die Stirn. Darüber hatte sie nicht nachgedacht. Sie war in der Überzeugung aufgewachsen, dass jeder, der kein Sklave und kein Bauer war, lesen und schreiben lernte. Ihr fiel ein, wie entsetzt sie gewesen war, als sie Rickard bei ihrer einen kurzen Begegnung gebeten hatte, ein Gedicht vorzutragen, und er gestand, nur Zahlen zu beherrschen, keine Buchstaben. Und er würde einmal über Westfall herrschen, ein Fürstentum, das vielleicht sogar den neuen König stellen würde. Zumindest hatte ihr Vater darauf gehofft.
»Einer seiner Priester kann bestimmt lesen«, sagte Ana.
»Wer weiß, ob sie ihm die Wahrheit vorlesen würden oder eine Lüge.« Jonan schüttelte den Kopf. Sein Haar war so lang geworden, das es ihm fast bis in die Augen hing. »Wir werden entscheiden, was zu tun ist, wenn wir dort sind.«
Es klang mehr, als wolle er entscheiden, was sie tun würden. Ana antwortete nicht.
Schweigend gingen sie den Weg entlang. Grünes Dickicht schloss ihn von beiden Seiten ein. Baumkronen hingen über dem Weg und verdunkelten die Sonne, ließen nur graues Dämmerlicht nach unten dringen. Wassertropfen fielen aus den Blättern. Anas Kleidung war feucht, ihre Haare nass wie nach einem Bad. Feuchtigkeit stieg dampfend von Ochsen und Menschen auf. Hin und wieder schrie ein Vogel, sonst hörte man nur das Tropfen des Wassers und das hohe Summen der Mücken.
Ana betrachtete Daneels Rücken durch die Strähnen ihrer Haare. Sein Hemd klebte auf seiner Haut, seine Beine hingen kaum mehr als eine Handbreit über dem Boden.
»Was ist er?«, fragte sie leise. »Ist er ein Magier oder ein Dämon? Ist er vielleicht besessen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich habe gesehen, was Magier tun, wie sie tanzen und der Erde ihre Magie abringen.« Ana dachte an die junge Frau, die bei einem Festbankett in Somerstorm einmal ein totes Schaf hatte schweben lassen. Fast zwei Stunden hatte sie getanzt. Als es ihr schließlich gelang und das Schaf in Höhe eines Stuhls schwebte, waren die meisten Gäste bereits zu betrunken, um ihren Erfolg überhaupt zu bemerken.
»Daneel redet nur«, fuhr sie fort. »Er kann kein Magier sein. Also muss er ein Dämon sein oder besessen. Aber können Dämonen so lange von einem Menschen Besitz ergreifen oder ihre wahre Gestalt verleugnen?«
»Ich weiß es nicht.« Jonans Antwort wirkte desinteressiert. Er schien ihr kaum zuzuhören.
Ana sah ihn an. »Möchtest du nicht wissen, was er ist?«
»Nur wenn es mir dabei hilft, ihm zu entkommen oder ihn zu töten. Der Rest ist unerheblich.« Er sprach mit solcher Kälte und Gleichgültigkeit, dass Ana an Qarus Worte denken musste: Er hat sein ganzes Leben nichts anderes getan. Er tut mir leid. Sie glaubte plötzlich zu verstehen, was er damit gemeint hatte.
»Bringt man euch im Orden bei, so zu denken? Nur das zu beachten, was euch zum Ziel führt?«
Jonan wischte seine Klingen mit einem Tuch ab. Es waren die einzigen Metallgegenstände, die keine Roststelle zeigten. »So überlebt man«, sagte er.
»Aber auch nicht mehr.«
Sie spürte seinen Blick, erwiderte ihn jedoch nicht. Vor ihr bogen die Karren um eine Kurve, dann sah auch sie die schwimmende Stadt im See.
Tu-Rhe war Chaos, eine verwirrende, turmhohe Masse aus Brettern und Seilen. Große und kleine Plattformen, die man zusammengebunden oder mit Pflöcken im Untergrund verankert hatte, bildeten das Fundament für eine unüberschaubare Anzahl von Hütten, die wiederum mit Hängebrücken, Leitern und Stegen verbunden waren. Sie nahmen fast den gesamten See ein, waren sogar in die Bäume hineingebaut worden, die ihn umgaben. Es gab Hütten, die über die Dächer anderer hinaushingen oder sich an sie anlehnten. Wasserstraßen führten an ihnen vorbei. Darauf fuhren mehrstöckige Flöße, die mit langen Auslegern stabil gehalten wurden. Wie riesige dunkle Spinnen krochen sie über das Wasser. Alles war offen, Ana sah kaum Wände, nur schilfgedeckte Dächer, Mückenschwärme und Menschen.
Eine einzelne Plattform lag abseits von den anderen. Hier stiegen Rauchfahnen auf und vermischten sich mit dem Nebel, der über dem See hing. Menschen hockten auf der Plattform und kochten. Es gab einige Garküchen, die meisten
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