Sturm
in weichen Wellen über sie hinweg. Sie atmete tief durch, wischte sich die Hände am Stroh ab und strich über den Stoff.
»Bist schön«, sagte der Mann.
Den Rest des Abends verbrachten sie schweigend. Das Mädchen und der Mann aßen Ziegenfleisch aus einem Topf, Ana hockte zwischen den Strohballen und versuchte zu schlafen. Es musste ihr gelungen sein, denn als sie den Verschlag das nächste Mal wieder wahrnahm, saßen der Mann und das Mädchen nicht mehr neben dem Feuer. Sie hatten ihre Fellmäntel auf dem Boden ausgebreitet und lagen aufeinander, das Mädchen auf dem Rücken, der Mann über ihr. Sie bewegten sich rhythmisch. Er stöhnte. Das Mädchen blickte zur Decke. Ihre Hände strichen über den Stoff, immer und immer wieder.
Ana schloss die Augen.
Kapitel 5
In Braekor glaubt man, dass ein böser Gott des Nordens vor langer Zeit beschloss, die Menschen für ihren Frohsinn zu bestrafen. Also erschuf er einen Sturm, der von Norden aufzog und Leid und Wut über die Welt bringen sollte. Doch der König von Braekor bat die Riesen, seinem Volk zu helfen. Sie kamen seinem Wunsch nach und schoben die Erde so stark zusammen, dass hohe Berge entstanden, über die der Wind nicht hinwegkam. Und so blieb die Fröhlichkeit in Braekor, und das Leid kam über Somerstorm.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Es war bereits hell, als Ana erwachte. Die Ziegen hatten den Verschlag verlassen, die Stute war geblieben und fraß Stroh vom Boden. Der Mann und das Mädchen waren nicht zu sehen. Auf der erkalteten Feuerstelle stand ein leerer Topf. Ana zog den Umhang vor ihrer Brust zusammen und schob den Vorhang zur Seite. Erst als sie sicher war, dass die Bewohner des Verschlags nicht in der Nähe waren, nahm sie Brot und Käse aus der Satteltasche und begann zu essen. Dann sah sie sich im Inneren um. Sie hatte gehofft, die beiden hätten ihr Kleid vielleicht zurückgelassen, doch diese Hoffnung zerschlug sich rasch. Ana fand weder ihr Kleid noch irgendeine andere Kleidung, die sie hätte tragen können. Es gab keine Decken, keine Felle, nichts außer dem Stroh am Boden und ein paar Stricken. Sogar die Werkzeuge hingen nicht mehr an der Wand.
Ich werde nicht halbnackt durch Braekor reiten, dachte Ana. Was würde man dort von mir denken?
Ihr Blick fiel auf den Vorhang am Eingang. Es war ein alter Sack aus Maka, dessen Seiten man aufgetrennt hatte. Mit einem Ruck riss sie ihn ab. Die Helligkeit, die plötzlich ins Innere fiel, ließ sie blinzeln. Ungeziefer verschwand raschelnd in dunklere Ecken. Ana schüttelte sich.
Der Stoff ließ sich mühelos zerreißen. Sie zog den Umhang aus, steckte den Kopf durch das Loch, das sie hineingerissen hatte, und band den Sack mit einem Strick über den Hüften zu. Er kratzte auf ihrer Haut, aber selbst dieses Gefühl war besser als die Nacktheit. Ana zog den Umhang darüber, führte die Stute aus dem Verschlag und schwang sich in den Sattel. Hinter ihr wehte der Wind durch den ungeschützten Verschlag und wirbelte das Stroh durcheinander.
Ana dachte an den Mann und das Mädchen, die ihre Nächte von nun an frierend verbringen würden. Die beiden hatten sie bestohlen, deshalb hatte sie sich nichts vorzuwerfen, trotzdem ließ sie der Gedanke nicht los. Sie würde einen der Karrais bitten, ihnen ein Goldstück zukommen zu lassen oder ihnen eine richtige Hütte zu bauen mit Fenstern und einer Tür. Die Idee beruhigte ihr Gewissen.
Im Tageslicht fand sie den Pfad über die Berge rasch. Auf den Reisen mit ihren Eltern hatten sie den großen Pass gemieden und sich an die Wege gehalten, die von den Ziegenhirten und ihren Herden benutzt wurden. General Norhan hatte darauf bestanden, weil es dort sicherer war als auf den Hauptstraßen. Großer Reichtum ist Grund für großen Neid, hatte ihr Vater oft gesagt.
Ana blickte zurück zu dem Verschlag am Fuß der Berge. Der Eingang war ein dunkles Loch im Holz. Sie wandte sich ab und ritt weiter, schneller als zuvor.
Je weiter sie in die Berge vordrang, desto steiler wurde der Weg. Wolken zogen träge an den Bergen vorbei. Der Wind hatte nachgelassen und mit ihm auch die Kälte. Ana trieb die kleine Stute an. Sie wollte die andere Seite unbedingt erreichen, bevor es Nacht wurde. Auf der anderen Seite gab es ein Gasthaus, hier gab es nur Felsen und gelegentlich ein ausgebleichtes Ziegenskelett am Wegesrand. Aufgeschüttete Steinhaufen zeugten davon, dass nicht nur Ziegen dem Pass zum Opfer
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