Sturm
Male getan hatte, sondern in seiner Haltung verharrte.
Sie zügelte ihr Pferd.
Jonans Rappe trottete weiter den Pfad entlang. Die Zügel hingen schlaff herab, der Reiter auf seinem Rücken bewegte sich nicht. Mit angehaltenem Atem sah Ana ihm nach, bis das Pferd schließlich in einer Senke verschwand.
Sie wendete ihr eigenes Pferd. Der Hafen, zu dem Jonan sie hatte bringen wollen, lag im Osten, keine Tagesreise entfernt. Der Patrouille waren sie im Westen begegnet, die große Straße, die ganz Somerstorm in der Mitte durchschnitt, befand sich nördlich von ihr.
Ana spornte die Stute an und wandte sich gen Süden. Sie ritt so schnell, wie sie es sich auf dem sumpfigen Untergrund zutraute, Braekor entgegen.
Kapitel 4
Es gibt kein Wort für Glück in der Sprache Somerstorms, weder für die göttliche Fügung, die einen Menschen Vorteilhaftes durch Zufall oder Spiel erreichen lässt, noch für den Zustand, den man durch redlichen Lebenswandel oder eine liebevolle Beziehung erlangt. Den Leser mag es noch mehr überraschen, dass es auch kein Wort für Unglück gibt, sollte man doch meinen, in Somerstorm hätte man Grund, gleich ein paar Dutzend davon zu erfinden.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so allein gewesen. Keine Wachen folgten ihr, keine Zofe maßregelte sie, kein Mensch sagte ihr, wohin sie zu gehen und was sie zu tun hatte. Am ersten Tag hatte sie noch in ständiger Angst gelebt. So war sie in Panik geraten, als sie Ochsenkarren in weiter Ferne entdeckt hatte. Sie war davongaloppiert und hatte erst angehalten, als ihr Pferd vor Erschöpfung zu stolpern begann. Jetzt, am Ende des zweiten Tages, war sie bereits mühelos zwei Patrouillen ausgewichen und hatte einen Hirten mit einer Ziegenherde passiert. Er hatte sie noch nicht einmal angesehen.
Sie ritt in der Geschwindigkeit, die ihr behagte, und rastete, wenn es ihr beliebte oder wenn ihr ein Bach die Gelegenheit gab, ihren Wasserschlauch aufzufüllen. In ihren Satteltaschen hatte sie Brot, Schmalz und Ziegenkäse entdeckt, genug, um einige Tage zu überleben. Ab und zu erschrak sie, wenn sie ein unvertrautes Geräusch hörte, aber abgesehen von diesen Momenten war sie gelassen und zufrieden.
Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass die Goldadern in den Bergen und der fast unermessliche Reichtum, den sie ihrem Vater gebracht hatten, sie und Gerit zu einem Ziel für Entführer und Neider machte. Nie hatte sie die Festung allein verlassen, nie hatte sie auch nur den Hof überquert, ohne von einem Dutzend Augen beobachtet zu werden.
Und jetzt war sie allein, endlich allein.
Ana spürte einen Stich des schlechten Gewissens, als ihr klar wurde, dass sie eine Freiheit genoss, die auf Kosten ihrer Familie erkauft worden war. Ihr Vater, wenn er sie jetzt hätte sehen können, wäre wohl besorgt um ihr Leben gewesen, aber aus irgendeinem Grund glaubte Ana, dass ihre Mutter stolz gewesen wäre. Ana hatte ihr Leben in die eigene Hand genommen, genau wie sie vor so vielen Jahren.
Ana blickte in den grauen Himmel. In Somerstorm glaubte man, dass die Seelen der Toten in die Erde einsanken wie Regen. Dort unten sollte es einen warmen Strom geben, auf dem sie bis zum Ende der Welt treiben würden, warm und zufrieden. Anas Familie hatte diesen Glauben nie angenommen, sondern den ihres Heimatlands bewahrt. Sie glaubten, dass die Seelen nach dem Tod von Libellen eingefangen und in den Himmel getragen wurden, wo sie zu Füßen der Götter saßen und auf die letzte Flut warteten, damit sie danach die Welt neu erschaffen konnten. Als Kind hatte Ana ihre Mutter einmal gefragt, weshalb es so wenige Libellen in Somerstorm und so viele am Großen Fluss gab. Sie hatte geantwortet, in Somerstorm gäbe es ja auch weniger Menschen. Die Antwort hatte Ana damals gefallen. Heute fragte sie sich, ob die wenigen Libellen gereicht hatten, um all die Seelen, die bei dem Fest freigelassen worden waren, einzufangen.
Ana zwang sich dazu, ihre Gedanken in die Zukunft zu richten, nicht in die Vergangenheit. Sie konnte an dem, was geschehen war, nichts ändern. Darüber nachzudenken, war Zeitverschwendung. Das hätte ihr Vater wohl gesagt.
Sie schätzte, dass sie noch einen oder zwei Tagesritte von Braekor entfernt war. Seit mehreren Stunden ritt sie bereits stetig bergauf. In einiger Entfernung sah sie die nebelverhangenen Bergspitzen des Jzewje-Gebirges, der Grenze zwischen Somerstorm und
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