Sturm
über den Kohleofen. Holzscheite lagen daneben. Man hatte sie sauber aufgestapelt in dem kleinen Unterstand, der aus wenig mehr als einem Dach und einigen Balken bestand. Windschief lehnte er an der Wand des Nordturms, dem einzigen Teil der Festung, der höher als das Dach des Haupthauses war. Es gab keine Fenster auf dieser Seite des Turms. Selbst ein Wachposten auf der Turmspitze hätte Gerit nicht sehen können, das wusste er, weil er es selbst ausprobiert hatte. Der Unterstand war sein geheimes Versteck gewesen, der Ort, an den er kam, wenn niemand ihn finden sollte.
Er wusste, dass es sich bei seinem geheimen Versteck in Wirklichkeit um eine Wachstation handelte, die jeder Soldat kannte. Bei einem Überraschungsangriff sollte hier oben ein Signalfeuer entzündet werden, um Truppen aus den Kasernen rund um das Dorf zu alarmieren. Neben den Holzscheiten stand ein Fass mit Petroleum. Gerits Vater hatte darauf bestanden, dass der Kohleofen niemals ausgehen durfte. Mit den glühenden Kohlen sollte das petroleumgetränkte Holz entzündet werden.
Doch nichts von alldem war geschehen. Das Fass, das Holz und die Kohlen waren unberührt. Gerit zog die Decke enger um seine Schultern.
Es hieß immer, Vater sei ein Mann der klugen Pläne, dachte er, aber genutzt haben sie ihm nicht.
Er lehnte sich an die Mauer des Nordturms. Sein Zimmer lag auf der anderen Seite, keine zwanzig Schritte entfernt. Wenn er die Augen schloss, sah er es vor sich: das Bett mit den schweren Daunendecken, den Kamin, die geschnitzten, stramm stehenden Holzsoldaten auf dem Spielbrett, die einander in stummer Feindschaft anstarrten, die Schüssel mit Honiggebäck, die seine Diener jeden Morgen auffüllten. Sein Leben lag jenseits dieser Mauer.
»Ich bin ein Geist«, flüsterte er.
Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes. Einen Geist konnte man nicht töten, ein Geist spürte keinen Hunger, keine Kälte, keine Angst. Ein Geist bewegte sich neben der Welt, unberührt von all dem, das sich in ihr abspielte.
Ein Geist war beneidenswert.
Laute Geräusche aus dem Hof ließen Gerit zusammenzucken. Er stand auf, duckte sich unter einem Balken hindurch und trat vorsichtig an den Rand des Daches. Halb versteckt hinter einer Zinne, die ebenso hoch wie er war, blieb er stehen. Von hier oben überblickte er fast den gesamten Innenhof. Haupt- und Nebentore hatte man geschlossen, sämtliche Wachtürme waren besetzt. Selbst wenn die Soldaten, auf die Gerit anfangs gehofft hatte, noch kamen, würden sie die Festung nicht mehr einnehmen. General Norhan, der Gerit in Militärgeschichte unterrichtet hatte, war fest davon überzeugt gewesen, dass keine Armee die Festung Somerstorms erobern konnte, solange die Tore geschlossen und die Türme besetzt waren.
»Nur ein Verräter könnte dafür sorgen, dass die Farben Somerstorms nicht mehr von den Türmen wehen«, hatte er damals gesagt. Gerit hatte nicht verstanden, weshalb sein Blick dabei so ernst gewesen war. Er sah empor zu den Fahnen Somerstorms, die im Wind flatterten. Norhan hatte sich geirrt. Es hatte keinen Verräter gegeben. Die Eroberer waren durch das offene Tor in die Festung gelangt, auf Einladung seines Vaters. Und auch die Farben Somerstorms wehten noch auf den Türmen, natürlich, denn die Eroberer hatten keine Farben.
Gerit sah wieder nach unten auf den Hof. Die Leichen, die seit dem Fest unbeachtet auf den Steinen gelegen hatten, waren zu einem Berg zusammengetragen worden. Zwischen ihnen lagen Essensreste und Trümmer. Die Eroberer räumten auf. Gerit fragte sich, weshalb.
Die Türen zum Haupteingang standen offen. In der Abenddämmerung warfen die Gestalten, die einige Leichen aus einem Karren die Treppenstufen heruntertrugen, lange, grotesk verformte Schatten. Gerit ging langsam in die Hocke, verschmolz mit der Zinne und der Dämmerung. Er wusste längst, wie die Eroberer aussahen, trotzdem ließ er keine Gelegenheit aus, sie zu beobachten – vor allem nach Sonnenuntergang, wenn sie sich veränderten, wenn sie ihre Menschlichkeit hinter sich ließen.
Vier von ihnen trugen Leichen zu dem Berg in der Mitte des Hofs. Sie waren ihm bereits so vertraut, dass er ihnen Namen gegeben hatte: Graumähne, Rosthaut, Glatze und Hinker. Glatze war der Älteste von ihnen, bei Tag ein kleiner alter Mann mit kahlem Kopf und krummem Rücken, bei Nacht eine hoch aufgerichtete Gestalt, die lautlos und leichtfüßig durch die Festung schlich. Sein Kopf erinnerte an den eines Wolfs, seine Arme waren länger als die
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