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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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auf und begann sich systematisch mit kalter Asche einzureiben. Ein Offizier hatte ihm diesen Trick für die Jagd verraten. Die Asche überdeckte den Eigengeruch des Jägers. Gerit wusste nicht, ob das bei den Nachtschatten ebenfalls funktionieren würde, aber das Einreiben war zu einem Ritual geworden, ohne das er das Dach nicht mehr verließ.
    Er nahm den Lederrucksack, den er aus der Küche gestohlen hatte, schnallte ihn auf seinen Rücken und zog vorsichtig eine Dachluke auf. Ausgetretene Holzstufen führten in einen Gang, der so schmal war, dass zwei ausgewachsene Männer nicht nebeneinander hätten gehen können. Es war dunkel. Die Fackelhalterungen an den Wänden waren leer.
    Gerit tastete sich durch den Gang bis zu einer Holztür. Er kniete sich hin und presste seine Wange gegen die Steine, sah durch den Spalt zwischen Tür und Boden in das graue Licht, das ihm entgegenschimmerte. Es war niemand zu sehen. Das Treppenhaus, das vom Haupteingang zu den Gastquartieren, der Bibliothek und einem der Audienzzimmer führte, wirkte verlassen.
    Die Tür ließ sich lautlos öffnen. Der Fürst hatte stets darauf geachtet, dass die Sklaven jedes Schloss und jeden Riegel regelmäßig ölten. Die Mine hatte auf die gewartet, die ihre Aufgaben nicht ernst genug nahmen. Gerit lenkte seine Gedanken weg von seinem Vater. Es gab Wichtigeres als die Erinnerung an einen toten Feigling.
    Er folgte der Treppe nicht nach unten, sondern bog nach links ab in den Gang, in dem die Quartiere lagen, die man Besuchern mit niederem Rang zur Verfügung stellte. Fürstliche Offiziere, die ihre Herren begleiteten, waren dort meistens untergebracht worden. Die Nachtschatten hielten sich dort nie auf. Es gab prächtigere und größere Zimmer in den unteren Stockwerken.
    Gerit öffnete die erste Tür. Der Raum dahinter war zweckmäßig eingerichtet. Ein Bett, breit genug für zwei, ein Waschtisch und ein großer Kleiderschrank. Auf diesen Schrank ging Gerit zu. Die meisten Geheimnisse der Festung hatte er von den Sklavenkindern erfahren, bevor ihm seine Mutter verbot, mit ihnen zu spielen. Sie hatten ihm die Kerkerräume mit längst verrosteten Ketten gezeigt – sein Vater ließ Verdächtige in den Kasernen der Stadt unterbringen, weit weg von seiner Familie – und den alten Tempel unter dem Stall, in dem ihre Vorfahren zu verbotenen Göttern gebetet hatten. Und schließlich erfuhr er durch sie von dem anderen Gangsystem, das wie ein dunkles Zerrbild neben jenem lag, das die Bewohner der Festung jeden Tag benutzten.
    Es hatte ihn enttäuscht, dass die Erwachsenen davon wussten. General Norhan hatte ihm erklärt, dass es früher wahrscheinlich für Überfälle auf leichtsinnige Gäste und zur Spionage verwendet worden war. Früher, das war, als die Fürstenfamilie von Somerstorm noch über ihr Land regierte, bevor die letzte Fürstin ihren Kindern ins Grab gefolgt war und die anderen Familien das graue Land ihren grauen Bewohnern überlassen hatten. Bevor man es dem neuen Fürsten schenkte, bevor das Gold entdeckt wurde, bevor das Leben in einer Nacht voller Klauen und Zähne endete, bevor …
    Gerit schüttelte sich, zwang seine Gedanken zur Ordnung. In den letzten Tagen fiel ihm immer häufiger auf, dass er sich in richtigen und manchmal falschen Erinnerungen verlor. Die Welt in seinem Kopf erschien ihm manchmal wirklicher als die vor seinen Augen.
    Er betrat den Kleiderschrank, zog an einem winzigen Hebel in der Decke und schob die Rückwand zur Seite. Das Gangsystem, das dahinter begann, bestand aus Holzbalken, die man wie Minenschächte durch den Stein getrieben hatte. Lange Leitern verbanden die Stockwerke miteinander. Manche erstreckten sich über zwei, drei Stockwerke hinweg, andere endeten in schmalen Röhren, die zwischen den Etagen verliefen und durch die man sich nur kriechend bewegen konnte. Es gab keine Fackelhalterungen, nur in das Holz gebrannte Symbole, deren Sinn Gerit nicht verstand. Er nahm an, dass es sich um Richtungsweiser handelte, aber worauf sie hinwiesen, blieb ihm verborgen.
    Gerit nahm die Öllampe, die er hinter dem Schrank abgestellt hatte, entzündete sie und stieg die Leitern hinab. Er hielt den Griff der Lampe mit den Zähnen fest. Das Holz der Leiter fühlte sich glatt an, so als wäre es von einer ewigen Prozession aus Handschuhen und Stiefeln poliert worden. Wie oft waren Soldaten diese Sprossen emporgestiegen, einen Dolch zwischen die Zähne geklemmt, so wie er die Lampe, eine brennende Kerze auf ihrem Helm.

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