Sturm
Er fühlte ihre Aufregung vor dem Kampf, schmeckte das Metall der Klinge auf seiner Zunge. Hatten sie immer gewusst, wen sie töten sollten oder warum?
Reiß dich zusammen. Gerit schlug seine Stirn gegen eine Sprosse. Der Schmerz nahm den Bildern ihre Kraft. Er kletterte die letzte Leiter hinunter, ging einige Schritte in den Gang hinein und löschte die Öllampe. Dann öffnete er eine kaum wahrnehmbare Tür in einer der Wände. Vorsichtig blickte er durch den schmalen Spalt in die Backstube.
Sie war leer, wie er gehofft hatte. Der Ofen war kalt, einige Holzwerkzeuge lagen daneben. Auf dem Tisch stand ein Bottich mit Teig, der von einer schwarzen Schimmelschicht bedeckt war. Blut und Mehl hatten sich auf dem Boden zu dunklen Klumpen vermischt. An der hinteren Wand lagen einige Brotlaibe auf Holzregalen. Jeder einzelne war in ein Tuch eingeschlagen, um ihn frisch zu halten. Gerit verzog das Gesicht. Die Nachtschatten hatten so viel Brot gegessen, dass kaum noch etwas für ihn übrig geblieben war. Vielleicht war er anfangs zu vorsichtig gewesen und hätte gleich ein ganzes Dutzend mitnehmen sollen. Doch das hatte er aus Angst vor Entdeckung nicht gewagt.
Er schnallte den Rucksack ab und steckte zwei Brote hinein. Eine Luke im Boden führte in einen der unterirdischen Vorratsräume, in dem Zwiebeln, Dörrobst und Pökelfleisch gelagert wurden. Gerit zog sie auf.
Und starrte in ein blasses Gesicht und weit aufgerissene blaue Augen.
»Lass mich leben«, flüsterte der Junge. Tränen liefen über seine Wangen. Er hockte auf dem Steinboden, die Arme um seine Knie geschlungen. »Bitte lass mich leben. Bitte.«
Gerit atmete tief durch. Die Hand, in der er den Rucksack hielt, zitterte so stark, dass er ihn abstellen musste.
»Ich gehöre nicht zu ihnen«, sagte er ebenso leise. »Du musst keine Angst haben.«
Seine eigenen Worte beruhigten ihn. »Wer bist du?«
Der Junge wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Er war einige Jahre jünger als Gerit.
»Ich heiße Vrenn«, sagte der Junge. »Ich soll Bäcker lernen.« Sein Blick glitt über Gerits ascheverschmiertes Gesicht. Dann fügte er ein fragendes »Minherr?« hinzu.
Minherr. Die Anrede, die Sklaven für ihre Herren verwendeten.
»Du weißt, wer ich bin?«, fragte Gerit.
»Glaub schon. Du bist der Sohn des Fürsten, Minherr.« Vrenn neigte den Kopf in einer angedeuteten Verbeugung.
Gerit nickte knapp. Vor dem Jungen fühlte er sich stark und erwachsen. »Komm da raus und bring Zwiebeln mit.«
»Ja, Minherr.« Vrenn griff nach einem Sack Zwiebeln, der fast genauso groß wie er war.
»Nicht den ganzen Sack, nur eine Handvoll. Sonst merkt noch jemand was.« Gerit reichte dem Jungen seinen Rucksack. »Hier.«
»Ja, Minherr.« Vrenn füllte den Rucksack mit Zwiebeln und legte, ohne zu fragen, noch ein Paket Schmalz darauf. Gerit wies ihn nicht zurecht. Er selbst hätte nicht daran gedacht, etwas davon mitzunehmen.
»Hast du dich die ganze Zeit hier versteckt?«, fragte er, als er den vollen Rucksack entgegennahm und ihn auf dem Rücken festschnürte.
Vrenn kletterte aus der Vorratskammer und schloss die Luke.
»Ich habe mich in den Wänden versteckt«, sagte er mit einem Blick auf die Tür, hinter der das Gangsystem begann. »Und du, Minherr?«
»Auf dem Dach.«
»So weit oben? Hast du keine Angst runterzufallen?«
»Ach Quatsch.« Gerit winkte ab. »Da oben ist es sicher, wenn man ein bisschen aufpasst. Und ich kann sie beobachten. Ich kann alles sehen, was sie unten machen, aber mich können sie nicht sehen.«
Wenn er so davon sprach, klang sein Leben wie ein Abenteuer, und er selbst erschien wie ein Held.
Vrenn zog die Nase hoch. »Ich glaube nicht, dass ich da rauf möchte.«
»Was?«
»Ich bin nicht gern so weit oben. Mir wird schlecht, wenn ich runtersehe.« Er zog wieder die Nase hoch, dann streckte er Gerit die Hand entgegen. »Viel Glück noch, Minherr.«
Gerit ergriff die ausgestreckte Hand nicht. Ich will kein Geist mehr sein, dachte er. Ich will ein Held sein.
Doch allein konnte er das nicht. Jemand musste da sein, der ihm die Kraft zum Heldentum gab. Jemand, der kleiner, schwächer und ängstlicher als er selbst war.
»Du wirst mit auf das Dach kommen«, sagte er. »Ich befehle es dir.«
Vrenn ließ seine Hand sinken. Seine Blicke glitten nervös von einer Seite zur anderen, als suche er nach einem Fluchtweg.
»Warum?«, fragte er nach einem Moment. »Warum lässt du mich nicht in Ruhe, Minherr?«
»Weil es meine Pflicht
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