Sturm
der Hände, die sie festhielten, das Flackern der Kerzen auf dem Tisch und die Brise, die kalt über ihre Haut strich – alles war klarer als irgendetwas zuvor in ihrem Leben.
Ana trat zu. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, rammte sie die Ferse ihres Stiefels in den Fuß des Mannes, der sie festhielt. Er schrie auf, eher überrascht als schmerzerfüllt. Der Druck auf ihren Armen ließ nach. Sie warf sich nach vorne, war plötzlich frei. Die Tür war nur wenige Schritte entfernt. Sie stieß den Soldaten zur Seite. Er griff nach ihrem Umhang.
»Halt sie fest!«, schrie Lazzu.
Ana spürte eine Hand auf ihrer Schulter und duckte sich unter ihr hinweg. Die Tür war jetzt weniger als eine Armlänge entfernt. Sie streckte die Hand aus. Ihre Finger berührten den hölzernen Griff und schlossen sich darum. In Panik schrie sie auf, als sie plötzlich an der Kapuze zurückgezogen wurde. Sie ließ nicht los, riss die Tür mit sich.
»Ich hab sie!« Der Soldat zog sie weiter zurück. Ana hielt sich an der Tür fest, kämpfte um jede Handbreit, die sie von der Dunkelheit entfernte.
»Lass sie nicht los.« Lazzu war direkt hinter ihr. Etwas blitzte auf. Jemand – der alte Mann? – stieß ein gurgelndes Geräusch aus. Ana hörte einen dumpfen Aufschlag.
»Scheiße!« Lazzus Stimme.
Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und glitt an ihr vorbei. Sie taumelte, als sie plötzlich freikam und gegen die Tür prallte. Hinter ihr schrie jemand so schrill, dass sie die Hände auf die Ohren presste. Ein zweiter Schrei mischte sich in den ersten, brach unvermittelt ab. Jemand wimmerte, dann wurde es still.
Ana nahm die Hände nicht herunter. Sie kniff die Augen zusammen. Ein Teil von ihr wollte in das Vergessen zurückkehren, in das sie sich schon einmal geflüchtet hatte, ein anderer kämpfte dagegen an. Sie wusste nicht, wem sie den Sieg wünschen sollte.
»Seid Ihr verletzt?« Die Worte drangen dumpf zu ihr hindurch. Sie kannte die Stimme, die sie sagte.
»Seid Ihr verletzt?«, wiederholte Jonan. »Bin ich zu spät gekommen?«
Der Kampf in ihrem Inneren endete. Der Teil von ihr, der hatte fliehen wollen, verwehte, bis sie ihn nicht mehr spürte. Etwas, was es vorher nicht in ihr gegeben hatte, nahm seinen Platz ein.
Sie öffnete die Augen. »Nein«, antwortete sie ruhig, »du bist nicht zu spät gekommen. Mir geht es gut.«
Ihre Knie zitterten, trotzdem zwang sie sich dazu aufzustehen. Tief atmete sie die kalte Luft ein.
»Dreht Euch bitte nicht um«, sagte Jonan. »Ihr müsst nicht sehen, was hier geschehen ist.«
»Doch, das muss ich.«
Sie war froh, dass der Türrahmen ihr Halt gab. So langsam wie eine alte Frau, die Angst hat zu stürzen, drehte sie sich um und sah in die Hütte hinein. Im Licht der einen, noch brennenden Kerze wirkte die Hand, die vor ihr auf dem Boden lag, als sei sie aus Wachs. Ihr Besitzer saß an der Wand, seine verbliebene Hand um den Stumpf gepresst. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund verharrte in einem ewigen Schrei. Ana wusste nicht, wie er gestorben war.
Rink lag neben dem Tisch. Ein Messer steckte in seiner Kehle. Blut tropfte vom Griff des Messers träge auf den Boden.
Anas Blick glitt zu Lazzu. Seine Brust klaffte so weit auf, dass Ana das still darin liegende Herz sehen konnte. Sein Gesicht war so verkrampft, dass sie ihn beinahe nicht wiedererkannt hätte. Der Gestank nach Blut und Fäkalien mischte sich in den Kohlgeruch.
Ana wandte sich ab und trat aus der Hütte hinaus in die Nacht.
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte sie, als der Wind den Gestank vertrieben hatte. »Draußen sind noch drei weitere Soldaten. Vielleicht sind sie vor dem Kampf geflohen.«
»Ihr müsst Euch nicht um sie sorgen.« Jonan zog die Tür hinter sich zu.
»Hast du sie getötet?«
»Ja.« Er blieb neben ihr stehen. »Ich werde Pferde holen.«
»Wie hast du mich gefunden? Bist du mir gefolgt?«
Die Frage schien ihn zu überraschen. »Ich bin Euer Leibwächter. Ich werde Euch beschützen, bis Ihr mich von meiner Aufgabe entbindet.«
»Habe ich das nicht getan, als du eingeschlafen bist und ich allein davonritt?«
Jonan neigte den Kopf. »Als ich erwachte, wart Ihr fort. Ich wusste nicht, was geschehen war. Solltet Ihr wegen dieser Pflichtverletzung Euer Vertrauen in mich verloren haben, verstehe ich das. Gebt mich frei, und ich belästige Euch nicht weiter.«
Sie glaubte beinahe ein Lächeln in seiner Stimme zu hören.
»Nein«, sagte sie hastiger, als es ihr lieb war,
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