Sturm
Zeit. Ich habe euch aber nicht gerufen, damit ihr meine Zeit verschwendet.« Er griff in die Brusttasche seiner Robe und zog ein gefaltetes Blatt Papier hervor. »Ihr seid hier, weil diese Nachricht euch beide betrifft.«
Jemand ist gestorben, dachte Craymorus. Neben ihm trat Rickard unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Horass faltete das Papier auseinander und griff nach seinem Vergrößerungsglas. Er war ein Gelehrter. Er würde es nicht seinem Gedächtnis überlassen, den Inhalt der Nachricht richtig wiederzugeben.
»Es gab einen Überfall«, sagte er dann. »Somerstorm ist gefallen.«
»Was?« In der Helligkeit wirkte Rickard blass. »Wer hat das getan?«
Horass ignorierte die Unterbrechung. »Es geschah während der Geburtstagsfeierlichkeiten für die Tochter des Fürsten. Einigen Soldaten gelang die Flucht, als die Eindringlinge zuschlugen. Von ihnen weiß man, dass der Fürst und seine Gemahlin ermordet wurden.« Er sah auf. »Die Soldaten wurden wegen dieser Feigheit natürlich dem Henker überstellt.«
Craymorus glaubte Ironie in seiner Stimme zu hören.
Rickard schluckte. Er schwitzte nicht mehr. »Und ihre Kinder?«, fragte er nach einem Moment.
»Der Sohn ist wahrscheinlich tot, die Tochter floh mit einem Leibwächter. Niemand weiß, wie weit sie gekommen sind.« Er setzte das Vergrößerungsglas nicht ab, als er Rickard ansah. Seine Augen wirkten riesenhaft und grotesk verzerrt. »Ich weiß, dass ihr verlobt seid.«
Somerstorm, dachte Craymorus. Das kleine, aber doch so wichtige Fürstentum lag auf der anderen Seite der vier Königreiche, weit jenseits des Großen Flusses. Er fragte sich, wie lange die Nachricht bis hierher gebraucht hatte.
»Wer hat das getan?«, fragte Rickard ein zweites Mal, jetzt lauter und fordernder. »Wer würde es wagen, sich gegen Somerstorm und Westfall zu stellen?«
Horass' Blick glitt zurück zu dem Papier in seiner Hand. »Deshalb habe ich euch beide heute holen lassen.«
Craymorus' Beine pochten. Er stützte sich stärker auf die Krücken, aber der Schmerz ließ nicht nach.
»Die Flüchtlinge«, antwortete Horass, »sagten, die fremden Eindringlinge hätten weder Uniformen noch Banner getragen. Und sie sagten, nicht alle wären …« Das Pochen in Craymorus' Beinen hallte in seinem Kopf wider und ließ seinen Blick flackern.
»… Menschen gewesen.«
Nachtschatten. Ihr Name loderte wie ein Feuer in seinem Geist empor. Er konnte nicht sprechen. Sein Atem ging keuchend. Essigsaurer Geruch brachte ihn zum Würgen. Durch das Pochen seiner Panik hörte er Horass' und Rickards Stimmen, ohne ihre Worte zu verstehen.
»Cray?« Rickard berührte ihn am Arm. »Cray?«
Craymorus konzentrierte sich mühsam auf ihn.
»Alles in Ordnung, Cray?«
Der essigsaure Geruch verwehte. »Ja, alles in Ordnung.«
»Hast du gehört, was der Meister gesagt hat?«
Craymorus schüttelte den Kopf. Rickard musterte ihn ebenso verwirrt wie ungeduldig.
»Mein Vater hat mich sofort nach Hause befohlen«, sagte Rickard. »Meister Horass hält es für das Beste, wenn du mich begleitest.«
»Nein.« Craymorus sah an Rickard vorbei seinen Meister an. Er hatte noch nie Nein zu ihm gesagt. »Ich kann das nicht. Ich werde Rickard von hier aus unterstützen. Es gibt Schriften hier und …«
Horass unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Du brauchst keine Schriften. Dein Wissen übertrifft doch beinahe das meine.« Er zögerte, bevor er weitersprach. »Wir hatten Pläne mit dir, wollten dich unterrichten, bis du eines Tages vielleicht uns unterrichten würdest. Aber die Welt hat sich durch diesen Überfall auf Somerstorm verändert, und du musst dich mit ihr verändern.«
Nein, dachte Craymorus, nicht verändern, sondern so bleiben wie seit jener Nacht im Wald. Die Nachtschatten hatten ihm nicht nur die Beine genommen, sondern sein Leben. Sie bestimmten seine Welt, seine Ansichten, seine Ängste, Träume, Hoffnungen und Ziele. Gefangen in Bewegungslosigkeit – nicht nur der des Körpers, sondern auch der des Geistes – hatte er sie studiert, hatte alles über sie gelernt, was jemals geschrieben wurde. Erst als er zu den Meistern kam, hatte er erkannt, dass die Welt nicht nur von der Grausamkeit der Nachtschatten, sondern auch von der Weisheit der Vergangenen geprägt worden war. Er hatte gespürt, wie die Nachtschatten ihre Macht über ihn verloren. Doch jetzt griffen sie erneut nach seinem Leben, und dieses Mal spürte er, dass sie es nie wieder loslassen würden. Er würde sich nie
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