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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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singen schien.
    Ein Eunuch, dachte Craymorus. Jemand musste ihn den Meistern geschenkt haben. Ein dankbarer Schüler vielleicht oder ein schlechter, der sich seinen Abschluss erkaufen wollte.
    Sie traten ein. Der Eunuch schloss die Tür hinter ihnen und verschwand in einem langen Gang. Seine Schritte hallten von den Wänden wider.
    »Das muss der Eunuch sein, den mein Vater den Meistern geschenkt hat«, sagte Rickard leise. »Ich wollte das nicht, aber er hat darauf bestanden.«
    Craymorus nickte. Seine Blicke glitten über die geschwärzten Wände und die tiefe, ebenso dunkle Decke. Nur einige Fenster, die kaum mehr als Schlitze waren, erhellten den Gang. Es roch holzig und alt. Einige Schriften behaupteten, die Schule hätte bereits zur Zeit der Vergangenen existiert, aber Craymorus glaubte nicht daran. Nichts von Menschen Erbautes konnte so alt sein.
    Die hallenden Schritte kehrten zurück. »Meister Horass wird euch jetzt empfangen«, sang die Stimme des Eunuchen. »Er erwartet euch im Lesezimmer.«
    »Ich kenne den Weg«, sagte Craymorus. Er war ihn schon einmal gegangen, damals, um zu hören, wie Meister Horass ihn über den Tod einer Schwester benachrichtigte, die er kaum gekannt hatte.
    Horass studierte die Hinterlassenschaft der Vergangenen bereits sein ganzes Leben lang. Von ihm hatte Craymorus alles gelernt, was er wusste. Wenn er uns sprechen will, geht es vielleicht doch um mich und nicht um Rickard, dachte er.
    Er zog seine Beine den Gang hinunter. Der Eunuch öffnete die Tür zum Wohntrakt und ließ sie allein.
    »Es ist die dritte Tür auf der rechten Seite«, sagte Craymorus. Er sagte nicht mehr. Es gab keine Worte, mit denen er den Raum, der dahinter lag, beschreiben konnte. Rickard wischte sich die Hände an der Hose ab. Er schwitzte.
    »Ich habe noch nie mit Meister Horass zu tun gehabt«, sagte er. »Was kann er schon über mich wissen?« Es waren die Worte eines Mannes, der sich selbst und keinen anderen von etwas zu überzeugen versucht.
    Craymorus blieb vor der Tür stehen. »Kommt herein«, sagte eine alte heisere Stimme von der anderen Seite, bevor er klopfen konnte. Rickard wischte sich die Hände ein weiteres Mal ab, dann zog er die Tür auf.
    Licht so hell wie ein Sommertag schlug ihnen entgegen. Rickard zuckte zusammen und schützte die Augen mit einer Hand. Craymorus schob sich an ihm vorbei und trat ein.
    »Schließt die Tür hinter euch«, sagte Meister Horass irgendwo aus der gleißenden Helligkeit.
    Craymorus blinzelte die Tränen aus seinen Augen und deutete eine Verbeugung an. Rickard verneigte sich so elegant, als stünde er vor einem Fürsten, nicht vor einem kleinen alten Mann mit verfilztem Bart und schmutziger schwarzer Robe. Sein Gesichtsausdruck war staunend, beinahe ungläubig. Einen solchen Raum hatte er wohl noch nie gesehen.
    Die Wände, der Boden und die Decke bestanden aus poliertem weißem Marmor. Winzige Spiegel, manche nicht größer als Glassplitter, waren in den Stein eingearbeitet. Tausendfach reflektierten sie das gleißende Licht des weißen Pulvers, das in einigen Nischen verbrannte. Es zischte und knisterte wie ein Feuer, aber es entstand kaum Rauch. Die Meister nannten es Sonnenpulver. Niemand außer ihnen wusste, wie man es herstellte. Viele hielten es für Magie, Craymorus glaubte an eine Hinterlassenschaft der Vergangenen. Außer einem Tisch und zwei Stühlen, die in der Mitte des Raums standen, gab es keine Möbel. Es war zu hell, um Schriften im Leseraum zu lagern, aber gerade hell genug, um Details in ihnen zu erkennen, die im Kerzenlicht vielleicht verborgen geblieben wären.
    Horass ließ das Vergrößerungsglas sinken, das er stets an einer Kette um den Hals trug, und rollte die Schrift, die vor ihm lag, zusammen. Craymorus versuchte den Titel zu erkennen, aber er stand zu weit entfernt.
    »Ich erwarte, dass Schüler sofort kommen, wenn ich sie rufe, nicht erst dann, wenn es ihnen beliebt«, sagte Horass. Sein Bart reichte ihm fast bis zu den Augen und wucherte so wild, dass man seinen Mund nicht sehen konnte. Die Essensreste, die darin hingen, verrieten jedoch, dass er einen besaß.
    Rickard verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten«, sagte er.
    »Es war meine Schuld«, fügte Craymorus hinzu. Rickard sah ihn kurz an. Du musst dich nicht entschuldigen, schien sein Blick sagen zu wollen. Wir haben nichts falsch gemacht.
    Meister Horass winkte ab. »Entschuldigungen und Erklärungen verschwenden nur meine

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