Sturm
du mir jetzt zeigen, Cray?«, fragte Rickard.
Craymorus drehte sich um. Seine Augen waren weit geöffnet, so als wolle er jeden Lichtstrahl aus diesen Ruinen in sich aufnehmen.
»Weißt du, wer sie erbaut hat?«, fragte er.
»Die Vergangenen. Jeder weiß das.«
»Weißt du, wofür sie dienten?«
»Keine Ahnung.« Rickard gab seine Unwissenheit offen zu, was er bei den Meistern nie getan hätte. Menschen, die mehr wussten als er, schüchterten ihn ein. Er fühlte sich klein und unvollkommen neben ihnen. Nur bei Craymorus nicht. Wer hätte sich neben ihm schon unvollkommen fühlen können?
»Ich habe wirklich keine Ahnung, Cray«, sagte er. »Ich bin hier bestimmt schon fünfzig Mal gewesen, aber darüber hat niemand je gesprochen.«
»Weil es niemand weiß.« Craymorus' Finger zeichneten die Muster in den Säulen nach. »Weder von dieser Ruine noch von denen an anderen Orten. Manche haben ihr ganzes Leben mit der Suche nach einer Erklärung verbracht.«
Seine Berührungen waren beinahe Liebkosungen. »Man hat Modelle von Rascone gebaut und versucht, die Gebäude wieder zusammenzusetzen, aber nichts hat gepasst. Die berühmtesten Baumeister der Welt haben sich daran versucht, alle sind gescheitert. Sie konnten sich noch nicht einmal darauf einigen, aus welchem Material die Ruinen bestehen.«
»Das ist doch Stein«, sagte Rickard.
»Aber welche Art Stein? Und wie wurde er bearbeitet? Unsere Werkzeuge hinterlassen keine Spuren auf ihm.«
Messer auch nicht, dachte Rickard. Mit dreizehn Jahren hatte er versucht, das Wappen seines Hauses in den Stein zu ritzen. Die Klinge war abgerutscht und hatte ihm beinahe die Kuppe seines Ringfingers abgetrennt. Die Narbe spürte er bis heute.
Craymorus drehte sich auf Krücken zu Rickard um. »Und jetzt erinnere dich an Folgendes: Der Krieg, den die Vergangenen gegen die Nachtschatten führten, dauerte Generationen. Städte gingen unter, die Welt brannte von ihrer Südspitze bis ins ewige Eis. Am Ende waren die Nachtschatten geschlagen, aber du weißt, welchen Preis die Vergangenen dafür zahlen mussten.«
Rickard nickte. Er war ungeduldig. »Ja, sie lagen im Sterben und erschufen uns mit ihren letzten Kräften, um ihr Erbe anzutreten. Cray, wenn das eine Geschichtsstunde werden soll, kannst du die auch in der Kutsche halten.«
»Warte.« Craymorus hob die Hand. »Hast du je die Kopien großer Kunstwerke gesehen, die auf Märkten verkauft werden?«
Rickard wollte antworten, kam aber nicht zu Wort.
»Ist dir aufgefallen, wie schwach die Farben sind, wie verschoben die Proportionen? Wir sind solche Kopien, Rickard. Wir sind dazu verdammt, nach einer Perfektion zu streben, die wir niemals erreichen werden. Die sterbenden Götter haben uns mit ihrem Atem Leben eingehaucht, damit wir ihren Kampf weiterführen.« Seine Hand strich über den fremden Stein. »Aber wie sollen wir das tun, wenn wir noch nicht einmal ein Muster in ihre Säulen ritzen können?«
Er machte eine Pause. »Das wird ein langer, harter Krieg«, sagte er. »Und ich bin mir nicht sicher, dass wir über die Fähigkeiten verfügen, ihn zu gewinnen.«
Craymorus setzte die Krücken vor sich und zog seine Beine der Kutsche entgegen. »Das wollte ich dir zeigen.«
Die Mönche an ihrem Altar begannen zu singen. Die Melodie war rau und schräg. Rickard betrachtete die Säulen und Bogen, die geschwungene filigrane Schönheit, über die der Blick glitt wie über Wasser.
Er trat einige kleine Steine gegen eine Säule. Sie prallten davon ab, ließen eine staubige Spur zurück.
»Dann sind wir eben nicht so klug und schön wie die Vergangenen«, rief Rickard Craymorus nach. Er suchte nach Worten, um seine Gedanken auszudrücken. »Kann sein, dass es in ihrer Natur lag, Dinge zu erschaffen. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es in unserer Natur liegt, Dinge zu zerstören. Wir können das verdammt gut, Cray, vielleicht sogar besser als die Vergangenen und die Scheiß-Nachtschatten zusammen. Deshalb werden wir den Kampf gewinnen, nicht weil wir irgendwas in irgendwelche Säulen ritzen können.«
Craymorus antwortete nicht. Rickard ging zur Kutsche. Er drehte sich nicht mehr zu den Ruinen um, obwohl er sie in seinem Rücken spürte wie einen dumpfen Druck. Die Melodie der Mönche folgte ihm, bis sich die Kutschentür hinter ihm schloss.
Sie erreichten Westfall kurz nach Sonnenuntergang. Craymorus schob den Vorhang seines Fensters zurück und sah nach draußen. Es war eine reiche Stadt, davon zeugten
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