Sturm
die gepflasterten Wege, die doppelstöckigen Steinhäuser und die mit Wachs gefüllten Straßenlampen, die die Hauptstraße in regelmäßigen Abständen erhellten. Doch Westfall war auch eine Stadt, die sich auf einen Krieg vorbereitete. Soldaten zogen in Gruppen durch die Straßen, einige singend, andere grölend. Die Tavernen waren hell erleuchtet und voller Menschen in den schwarzblauen Uniformen Westfalls. In den Gassen warteten Prostituierte auf Freier und Priester auf Gläubige. »Lasst euch segnen für nur zwei Kupfer«, hörte Craymorus sie rufen. Es roch nach Urin und Erbrochenem.
Rickard lachte plötzlich. »Du solltest dein Gesicht sehen, Cray«, sagte er. »Man könnte glauben, jemand habe einen toten Fisch unter dein Hemd gesteckt. Hast du noch nie Soldaten feiern sehen?«
»Nein.« Die Kutsche fuhr einen Bogen um drei Soldaten, die sich gegenseitig stützten. Sie hielten große Krüge in den Händen. Einer legte den Kopf in den Nacken, um aus seinem Krug zu trinken, taumelte jedoch und fiel um. Er riss einen der beiden anderen mit sich. Der dritte blieb schwankend stehen. »Kommt schon!«, schrie er. »Steht auf! Die Nacht ist noch nicht vorbei.«
»Sie wirken so …« Craymorus zögerte. Er hatte primitiv sagen wollen, doch das war nicht das richtige Wort. »… verzweifelt«, sagte er schließlich.
Rickard winkte ab. »Sie wollen sich nur vergnügen, solange es noch geht. Auf dem Marsch nach Somerstorm werden sie dazu keine Gelegenheit haben.«
»Glaubst du, dass dein Vater sie dorthin schickt?«
»Natürlich. Somerstorm ist unser Verbündeter und Ana meine Verlobte. Wir müssen sie finden und den Fürsten rächen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Rickard schüttelte den Kopf. »Es wäre ehrlos, anders zu handeln.«
Er wirkte wie jemand, der sich selbst von etwas überzeugen wollte.
Die Straße stieg langsam an. Die Häuser lagen hinter ihnen, wurden abgelöst von Wachtürmen und Schutzwällen. Craymorus drehte den Kopf und sah zu dem Hügel empor, auf dem Burg Westfall lag. Fackeln brannten auf ihren Mauern und rissen ihren Umriss aus der Dunkelheit. Craymorus sah flache Dächer und breite steinerne Türme, die von Gerüsten umgeben waren. Eine Erinnerung stieg langsam in ihm auf: sein Vater, sichtlich erregt auf und ab gehend, seine Mutter mit einem Pergament in der Hand an dem Tisch sitzend, unter dem Craymorus spielte.
Er runzelte die Stirn. »Ist die Burg nicht abgebrannt?«
Rickard nickte. »Ja, vor fast zwanzig Jahren, kurz nach meiner Geburt. Ich kann mich natürlich nicht mehr daran erinnern, aber mein Vater erzählt, der Rauch habe einen Monat lang über der Stadt gelegen.«
»Und seitdem baut er sie wieder auf?«
»Genau so, wie sie vorher war.« Rickards Lächeln wirkte gequält. »Mein Vater ist ein sehr sturer Mann.«
Die Kutsche rollte über die heruntergelassene Zugbrücke in den Hof der Burg. Zwei Wachen salutierten mit gestreckten Lanzen. Der Hof wurde von Fackellicht hell erleuchtet. Sklaven knieten in einer langen Reihe am Boden und hielten die Köpfe gesenkt. Sie trugen schwarz-blaue Westen auf nackten Oberkörpern und tief geschnittene schwarze Hosen, die ihre Bäuche betonten. Fast alle waren fett. Es war nicht unüblich, den eigenen Reichtum auf diese Weise zur Schau zu stellen, aber Craymorus hatte es stets als geschmacklos empfunden. Hinter den Dienern standen höfische Beamte in langen, blau-schwarzen Roben, auf einem Podest zwischen ihnen saßen der Fürst und die Fürstin von Westfall.
»Wir wurden wohl angekündigt«, sagte Rickard.
Die Kutsche hielt an. Zwei Sklaven sprangen auf und öffneten die Kutschentüren auf beiden Seiten. Kühle Abendluft drang ins Innere. Rickard stand auf. »Bringen wir es hinter uns.«
Craymorus folgte ihm aus der Kutsche, blieb jedoch neben ihr stehen, während Rickard die Reihe der Sklaven abging, einige freundliche Worte mit ihnen wechselte und dann jeden Beamten mit Handschlag begrüßte. Seine Mutter, eine spröde wirkende schlanke Frau, umarmte er, vor seinem Vater verneigte er sich. Fürst Balderick von Westfall war ein breiter, kräftiger Mann mit einem Oberkörper wie ein Fass und dichtem grauen Haar. Neben ihm wirkte Fürstin Syrah kleiner und jünger, als sie eigentlich war. Sie trug ein hochgeschlossenes dunkles Kleid und einen ebenso dunklen Umhang, er trug die hohen Stiefel und eng sitzende Wildlederkleidung eines Mannes, der auf die Jagd reiten will. Craymorus schätzte, dass er gute zehn Jahre älter
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