Sturmauge
seltsam, zeigte Eigenschaften eines Kindes und eines Unsterblichen zugleich. Mehr als einmal traten kindliche Verhaltensweisen unbewusst zutage, was Ilumene vermuten ließ, dass noch die Reste einer sterblichen Seele vorhanden waren. Als Ruhen ihm befahl, die Geschichte des Gottes der eitlen Menschen zu erzählen, war das nicht nur eine Erinnerung an die Befehlsgewalt Azaers gewesen. So wie der Körper, den der Schatten nun trug, Kleidung und Nahrung brauchte, so befriedigte die Bitte, eine Geschichte erzählt zu bekommen, ein unbestimmtes Bedürfnis in dem Kind.
Also spiele ich jetzt wohl den Papa. Das habe ich aber nicht kommen sehen!
»Warum soll ich wählen?«, fragte Ruhen.
»Du meinst, beides stimmt?« Ilumene zuckte mit den Schultern. »Das mag wohl so sein. Die einfachste Erklärung ist, dass Lord Styrax ihn auf die Suche schickte, aber Nai war Mitglied des inneren Kreises von Zhia Vukotic. Vermutlich hat sie ihn immer noch am Haken – er bleibt in der Mitte, wo auch sie sich am liebsten aufhält.«
Er ging wieder los und hatte vor, so lange zu gehen, wie er es nur schaffte. Aber dann blieb er doch wieder stehen.
»Was glaubst du, hat Lord Styrax hier vor?«, fragte er. »Wenn er Nai die Beschränkungen der Bibliothek prüfen lässt, hat er daran ein größeres Interesse, als wir ahnten. Vielleicht hat er ein Ass im Ärmel?«
»Zeig doch Vertrauen.«
»Hah. Emin sagte immer: ›Es ist besser, auf seine eigene Vorbereitung zu vertrauen.‹ Wenn es dir recht ist, denke ich noch ein bisschen darüber nach.«
»Gut.«
Ilumene wartete, aber es folgte kein weiterer Ratschlag.
Verdammt, verhältst du dich absichtlich wie Emin, um mich zu ärgern, oder hatte Rojak damit Recht, dass man durch seine Feinde in seinem Wesen bestimmt wird?
»Wenn er etwas vorhat, sollten wir uns Sorgen machen – das könnte hier alles aus dem Gleichgewicht bringen. Die Verbindung von Lord Isak und Lord Styrax hetzt die beiden größten Mächte aufeinander. Die Farlan können einen Krieg nur auf eigenem Land gewinnen, aber sie müssen trotzdem lange genug aushalten. Wenn Styrax einen bemerkenswerten Vorteil erhält, könnte er den Westen so schnell erobern, dass wir keinen Nutzen daraus ziehen werden. Die Geweihten sind für einen Heiland noch nicht bereit, das Gleichgewicht muss gewahrt werden.«
»Und wenn das nicht möglich ist?«
Er ließ Ruhen von seinen Schultern gleiten und stellte den kleinen Jungen vorsichtig ab, sank dann vor ihm auf die Knie. »Würdest du deine Pläne aufgeben?«, fragte er verblüfft. Der Schatten war geduldig, ging langsam vor, plante aber Jahre, Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte im Voraus. »Ich habe noch nie erlebt, dass du etwas abgeblasen hast.«
»Bisher war es auch nie nötig.«
Ilumene nickte bedächtig. »Du kannst sie nicht steuern. Du hast das Stück so angelegt, dass sich die Figuren der Kontrolle des Dichters entziehen. Welche anderen Pläne könnten wir vorbereiten? Wir können doch keine Prophezeiungen in die Menin-Geschichte einpflanzen.«
»Was bin ich?«
»Ein Kind«, sagte Ilumene zögernd, in dem Wissen, dass ihn die offensichtlichen Antworten leiten würden, mochten sie auch lächerlich klingen. »Ein Junge, ein Heiland, ein Sterblicher … ein Sohn.«
»Ein Sohn und ein Heiland.«
»Die Geweihten wollen einen Heiland anbeten«, erkannte er. »Und Styrax’ einzige Schwäche ist sein Sohn. Aber du kannst beides sein und auf diese Weise das Gleichgewicht erhalten …«
Er dachte einige Herzschläge lang darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das läuft all meinen Instinkten zuwider. Kein General verwirft eine erfolgreiche Taktik für etwas Unerprobtes, schon gar nicht, wenn seine Truppen für diese Sache nicht geeignet sind. Deine Gefolgsleute sind allesamt sorgfältig aufgestellt, dein Plan wird zur richtigen Zeit Früchte tragen – wie könnten wir jetzt umschwenken?
Bevor er in den Krieg zieht, muss ein General dafür sorgen, dass er nicht verlieren kann. Dies ist die Grundlage des Krieges. Es widerspricht allem, was ich über die Kriegsführung gelernt habe, Jahre der Vorbereitung zu verwerfen. Und du hast immer gesagt, ich solle das Ganze wie einen Feldzug betrachten.«
Ruhen schwieg eine Weile, so lange, dass Ilumene sich fragte, ob er es doch zu weit getrieben hatte. Rojak hatte ihm genug Geschichten von Untergebenen erzählt, die den Zorn Azaers auf sich gezogen hatten. König Emins Schreiber streiften verborgen durchs Land und sammelten
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