Sturmauge
Spuk- und Schreckensgeschichten, und Ilumene wusste, dass sich nicht alle diese Leute gegen Azaer gestellt hatten – einige hatten ihn auch einfach nur enttäuscht. Deren Ende war besonders grausam gewesen.
»Selbst die beste Frucht kann faul werden«, sagte das Kind schließlich. Ein unbekannter Tonfall lag in seiner Stimme, bei dem sich Ilumene die Nackenhaare aufstellten. Ruhen wuchs
von Tag zu Tag schneller und immer weiter in die Macht hinein, die er als Schatten besessen hatte, aber auf eine sehr menschliche Weise. Nach Jahrhunderten körperloser Schwäche gingen dem Schatten die wenigen Monate hilfloser Kindheit auf die Nerven.
»Bedenke, mit welchen Mächten wir unser Spiel da treiben. Verderbnis ist unabdingbar, wir dürfen sie nicht fürchten.«
Ilumene lächelte. »Daraus sprechen die faulenden Reste von Rojaks Seele.«
Ruhen nickte, und in seinen Augen tanzten die Schatten.
»Von all meinen Flüchen, seien sie weiblicher oder unsterblicher Natur, halte ich für dich vor allem den Hass bereit.«
Nai erwachte mit einem Ruck. Er sah niemanden in dem dunklen Tal, aber das musste kein gutes Zeichen sein.
»Äh, edle Dame Zhia?«, fragte er heiser und mit trockener Kehle.
»Nenn mich nicht edle Dame Zhia, du stummelfüßiger Wurm«, klang ihr samtiges Grollen neben seinem Ohr.
Nai zuckte zusammen und wäre beinahe von der Kante gefallen, konnte sich aber gerade eben noch am Stein festhalten. Er drehte sich ganz herum und sah immer noch nicht mehr als den schwarzen Stein und die erloschene Laterne neben sich.
Diesmal erklang die Stimme im anderen Ohr. »Deine Dummheit ist grenzenlos. Bewähre dich bald, oder ich reiße dir deine Gedärme heraus und erhänge dich damit.«
Diesmal war Nai allerdings vorbereitet und schreckte nicht zurück. Wegen des Rauschnebels in seinem Kopf dachte der Nekromant darüber nach, dass sie diese Drohung mit Leichtigkeit wahrmachen könnte.
»Ich bin hier, wie Ihr befohlen habt.«
»Habe ich dir denn auch befohlen, es dem ganzen Tal zu verkünden?
« , fauchte Zhia. »Vergib mir, dass ich vergessen habe, dir zu befehlen, nüchtern zu bleiben und dich nicht bei etwas beobachten zu lassen, das angeblich unmöglich ist!«
Nai sah sich schuldbewusst um. Er konnte die leere Flasche nicht finden, hatte sie im Schlummer vermutlich von der Kante gestoßen.
Wenigstens habe ich keine Wachen angezogen , dachte er etwas erleichtert. Dann hätte sie mich wirklich umgebracht. Ein Windhauch strich um seinen Körper, so schlang er den Ledermantel um sich. Er antwortete nicht auf Zhias Worte, denn er wusste, dass alles, was er jetzt sagen konnte, sie nur noch wütender machen würde.
»Ich habe dir diese Stelle nicht offenbart, damit du sie allen Leuten zeigst. Ich hoffe für dich, dass du sie aus gutem Grund aufs Spiel gesetzt hast.«
»Ja, edle Dame«, sagte Nai rasch und war froh, das Thema wechseln zu können. Das wütende Fauchen der Vampirin hatte ihn ernüchtert. »Es gibt Neuigkeiten: Lord Styrax hat heute Nachmittag die Faust eingenommen.«
»Das weiß ich schon«, sagte sie geringschätzig. »Er gibt gerne an. Der dumme Junge hat mal wieder mit Dämonen herumgespielt. Ich habe es noch in Byora gespürt. Sag mir, was er in der Bibliothek will.«
»In der Bibliothek?« Nai war verwirrt. »Die Kapitulation der Viertel verhandeln, das wisst Ihr doch.«
»So weit von seinen Truppen entfernt, an einem Ort, wo er seine besten Waffen nicht einsetzen kann? Sei nicht dumm. Die Litse-Armee in Ismess ist zwar miserabel, aber immer noch groß genug für die Wache, die ihn begleitet. Styrax ist verwundbar, solange er sich hier aufhält, auch wenn seine Wyvern in der Nähe ist. Will er länger als einen Tag bleiben?«
»Ich glaube schon«, sagte Nai zögernd. »Ich konnte ihn im
Gespräch mit General Gaur belauschen und habe den Eindruck, dass er Nachforschungen anstellen will. Er hat Gaur ermahnt, Kohrad im Auge zu behalten.«
»Sonst noch etwas?«
»Er hat mir eine Aufgabe übertragen. Ich sollte am Rand des Tals entlanggehen und die Orte ausweisen, an denen ich Magie in der Luft spüre.«
Eine Weile war es still. Nai drehte sich halb zu den Klippen hinter sich um und wurde dafür von einem eisigen Windstoß getroffen, der in den Augen stach.
»Wenn du welche findest, so sag mir gefälligst Bescheid.«
Nai nickte, auch wenn er den Befehl nicht recht einordnen konnte. In der Luft lag eine Spur der Vampirin, ein feiner Geruch, so schwach, dass er beinahe auch eine
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